Claudia Kemfert vor verschwommener Bücherwand.
Foto: Oliver Betke
 

Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrats erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Claudia Kemfert, Professorin für Energiewirtschaft und Chefin des Energie- und Umweltbereichs am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung DIW.

Klimareporter°: Frau Kemfert, auch unter Energiefachleuten ist umstritten, ob im Süden Deutschlands Atomkraftwerke gebraucht werden, um das Stromsystem über den Winter zu bringen. Sie sagen, das Vorhalten von zwei deutschen AKW in einer sogenannten Notreserve ist unnötig. Warum?

Claudia Kemfert: Atomkraft hilft in der aktuellen Krise nicht. Die Stresstests zeigen: Selbst im extremsten Szenario – das im Übrigen auch eine extrem niedrige Eintrittswahrscheinlichkeit hat – kann Atomkraft lediglich zu 500 Megawatt Entlastung beitragen, also zu weniger als einem Prozent im Stromsystem Abhilfe schaffen.

Viel wichtiger sind Netzreserven, Lastmanagement und der Einsatz erneuerbarer Energien samt Flexibilitäten. Etwa die Hälfte der derzeit im Einsatz befindlichen Gaskraftwerke produziert neben Strom auch Wärme. Da helfen Atomkraftwerke nicht.

Auch auf den Strompreis hat der Einsatz von Atomkraftwerken nur einen sehr geringen preisdämpfenden Effekt.

Zudem ist der Aufwand der Bereitstellung von Atomenergie in der Netzreserve enorm hoch: Das Atomgesetz muss geändert, Personal muss vorgehalten werden, sicherheitstechnische Überprüfungen müssen stattfinden und so weiter. Der Ertrag ist demgegenüber gering.

Es ist auch sehr unwahrscheinlich, dass – wie im Stresstest angenommen – im Winter immer noch ein Großteil der französischen AKW nicht am Netz sein wird, außerdem in Deutschland kaum Regen fällt und die Stromnachfrage stark steigt.

Aus dem Grund halte ich es für sehr unwahrscheinlich und damit unnötig, dass die Atomkraftwerke länger als bis Ende des Jahres laufen werden.

Die Bundesregierung will am Strommarkt sogenannte Übergewinne abschöpfen, vor allem, um Entlastungen beim Strompreis für Unternehmen und Haushalte zu finanzieren. Halten Sie das für umsetzbar?

Wenn damit nicht die Belastung für Unternehmen, die in Zukunftsmärkte investieren, unnötig hoch wird, kann es sinnvoll sein, Zufallsgewinne abzuschöpfen. Dies kann beispielsweise durch eine Umlage oder Abgabe passieren. Einnahmen sollten zielgerichtet an betroffene Unternehmen und Haushalte rückerstattet werden.

Ein Nachteil kann sein, dass Unternehmen zu sehr belastet werden und ihnen die Spielräume für Investitionen fehlen. Daher wäre es sinnvoll, dass nur solche Zufallsgewinne besteuert werden, die nicht in Zukunftsinvestitionen fließen sollen.

Ob und in welchem Umfang Einnahmen generiert werden können, hängt von der konkreten Ausgestaltung ab.

Eigentlich sollte der CO2-Preis für Heizen und Mobilität Anfang 2023 um weitere fünf auf 35 Euro steigen. Das wird im Zuge des Entlastungspakets um ein Jahr verschoben. Was bedeutet das aus klimapolitischer Sicht?

Ich halte es für einen Fehler, dass man den CO2-Preis für ein Jahr aussetzt. Zwar ist es verständlich, dass aufgrund der steigenden Preise für fossile Energie erhebliche Belastungen auftreten können, aber der zusätzliche Effekt durch den CO2-Preis ist denkbar gering.

Viel wichtiger ist aber das fatale Signal, das dadurch gegeben wird: Klimaschutz wird wie immer hintangestellt. Wir haben einen erheblichen Nachholbedarf beim Klimaschutz, im Gebäudebereich wie auch gerade im Verkehrssektor.

Hier die richtigen Preissignale zu setzen und Einnahmen zu generieren, die man gezielt für energetische Gebäudesanierung oder für nachhaltige Mobilität bereitstellt, ist elementar. Daher sollte man die Erhöhung des CO2-Preises nicht aussetzen.

Die Energieminister der EU berieten diese Woche über weitere Maßnahmen gegen die hohen Energiepreise. Was empfehlen Sie der EU-Politik?

Ich warne vor Schnellschüssen und nationalen Alleingängen, besonders was die Anpassung des Strommarktdesigns angeht. Erneuerbare Energien müssen schnell und überall ausgebaut werden. Das Strommarktdesign muss in der Lage sein, diesen notwendigen Ausbau der erneuerbaren Energien zu gewährleisten.

Das bisherige Strommarktdesign ist vorrangig auf fossile Energieträger ausgerichtet. Das künftige Design muss für die Flexibilisierung von Stromangebot und -nachfrage sorgen und eine stärkere Systemverantwortung von erneuerbaren Energien hervorbringen. Diese senken übrigens auch den Strombörsenpreis.

Neben dem Ausbau der Erneuerbaren kommt es auch auf Speicher, Lastmanagement und eine dezentrale, intelligente Netzinfrastruktur an. Wir benötigen einen Markt für alle Flexibilitätsoptionen beim Strom.

Die Reform des Strommarktdesigns sollte in Europa in Ruhe und durchdacht erfolgen, Schnellschüsse und Alleingänge in einzelnen Ländern sind kontraproduktiv.

Eine Art Einkäufer-Kartell zu bilden und weniger für das russische Gas zu bezahlen, ist überfällig. Russland hat in der Vergangenheit enorme Einnahmen erzielt. Dass Russland damit droht, kein Gas mehr zu liefern, sollte uns nicht schrecken, denn schon länger liefert Russland immer wieder gar kein Gas mehr.

Das Allerallerwichtigste in Europa bleibt aber der sehr viel schnellere Ausbau der Erneuerbaren. Hier sollten sich die Länder unterhaken und das gemeinschaftlich forcieren. Die beste Antwort auf fossile Energiekriege ist die Energiewende in Europa, und zwar gemeinschaftlich.

Und was war Ihre Überraschung der Woche?

Wirklich überraschend ist, dass im Jahr 2022 die Diskussionen noch immer komplett identisch sind mit allen rückwärtsgewandten Energiedebatten der letzten 25 Jahre. Es geht immer und ausschließlich um Technologien der Vergangenheit – von Atomkraft über Fracking und Flüssigerdgas bis zu Kohle.

Viel zu wenig wird diskutiert, wie wir die Energiewende vollenden können, welche Lösungen wir brauchen, auch kurzfristig die erneuerbaren Energien auszubauen, Unternehmen zu halten und schnell einen Fachkräfte-Booster zu starten.

Man will nicht darüber sprechen, wie der Erneuerbaren-Ausbau schneller gehen kann, welche Herausforderungen damit verbunden und welche Schritte notwendig und sinnvoll sind.

Zum Beispiel darüber, dass wir in Deutschland gerade Pumpspeicherkraftwerke stilllegen, statt sie am Netz zu halten. Oder dass wir in einem Land, das in vier Monaten ein Flüssigerdgasterminal bauen kann, ebenso schnell Windkraftanlagen installieren könnten, wenn wir wollten.

Es ist erstaunlich, dass es dazu keine öffentlichen Debatten gibt. Damit machen wir es Putin sehr leicht.

Wir verbreiten lieber Horrorszenarien, die Panik, Angst und Schrecken verbreiten, anstatt über echte Lösungen zu sprechen. Indem wir – wie immer – zu lange an der Vergangenheit festhalten, kommen wir wieder nicht voran. Das sollten wir schnellstmöglich ändern.

Fragen: Sandra Kirchner und Jörg Staude

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