Claudia Kemfert vor verschwommener Bücherwand.
Foto: Oliver Betke
 

Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrats erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Claudia Kemfert, Professorin für Energiewirtschaft und Chefin des Energie- und Umweltbereichs am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung DIW.

Klimareporter°: Frau Kemfert, Klimaschützer fragen sich mehr und mehr, ob Deutschland noch auf einen 1,5-Grad-Klimapfad kommen kann, gerade wenn in den beiden kommenden Wintern mehr Kohle anstelle von Erdgas verbrannt werden soll. Wie groß ist die Chance, dass Deutschland das CO2-Budget für 1,5 Grad noch einhält?

Claudia Kemfert: Die Wahrscheinlichkeit, dass Deutschland überhaupt noch auf einen 1,5-Grad-Pfad kommt, ist extrem gering. Das war schon so, bevor man entschieden hat, übergangsweise mehr Kohle zu nutzen.

Der Grund ist: Der Energiesektor ist fast der einzige, der sich ernsthaft um das Erreichen der Klimaziele bemüht. Andere Sektoren wie Verkehr, aber auch Gebäude hinken weit hinterher. Das ist schwer aufzuholen, auch weil man kurzfristig mit dem Tankrabatt den Benzinverbrauch angekurbelt hat und dadurch mit steigenden Emissionen zu rechnen ist.

Auch drohen die Fehler der Vergangenheit sich zu wiederholen. Heute in fossile Infrastrukturen wie neue feste Flüssigerdgas-Terminals zu investieren, ist ein solcher Fehler. Heute sollte ausschließlich in erneuerbare Energien investiert werden. Das gilt auch für die Weltgemeinschaft und die G7.

Der Bau neuer fester Flüssiggas-Terminals bedeutet, dass diese über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten ausgelastet sein müssen. Damit zementiert man fossile Carbon Lock-ins und schafft falsche technologische Pfadabhängigkeiten. Die Erreichung der Klimaziele gerät so in weite Ferne.

Um das russische Erdgas zu ersetzen, hat der Energieforscher Michael Sterner vorgeschlagen, Wind- und Solarstrom, der in großen Mengen weggeworfen werde, weil er nicht in die Netze passe, in grünes Gas umzuwandeln und so die Gasspeicher zu füllen. Was halten Sie davon und wie groß sind die Möglichkeiten, Erdgas durch erneuerbare statt fossile Energien zu ersetzen?

Grundsätzlich halte ich es für sinnvoll, dass man Strom aus erneuerbaren Quellen nutzt, wo immer es geht. Statt die Anlagen abzuregeln, ist es auch sinnvoll, Speicher zu füllen. Überschüssiger Windstrom im Norden kann gut mittels Elektrolyseuren zu grünem Wasserstoff werden, der dann weiter genutzt werden kann. Solarenergie sollte mit dezentralen Speichern aufgefangen werden.

Die denkbare Herstellung von E-Fuels aus überschüssigem Ökostrom ist dagegen sehr energieaufwendig und teuer. Kostbare E-Fuels sollten nicht im Gasnetz sozusagen verschwinden, das wäre reine Verschwendung. E-Fuels sollten besser sofort direkt als Treibstoff genutzt werden.

Und es gibt zahlreiche low hanging fruits: Kurzfristig können existierende nachhaltige Biomasseanlagen genutzt werden, um fossiles Erdgas teilweise zu ersetzen. Zudem sollte sehr viel mehr Erdgas eingespart werden, sowohl im Industriebereich als auch im privaten Haushaltsbereich.

Noch in diesem Jahr will die G7 einen "Klimaklub" von Vorreiterstaaten gründen. Das gab Bundeskanzler Scholz zum Abschluss des Gipfels in Elmau bekannt. An der Finanzierung von Erdgasprojekten im Ausland will Scholz dennoch festhalten. Kann der Klimaklub bald etwas real gegen die Erderwärmung bewirken?

Erst einmal klingt es gut. Aber wir haben keine Zeit mehr für schöne Absichtserklärungen, wir brauchen endlich beherztes Handeln.

Wenn die beteiligten Länder schnell konkrete und umfassende Vereinbarungen treffen, nämlich die komplette Abschaffung von Subventionen für fossile Energien, die Abkehr von Kohle und den Ausbau erneuerbarer Energien sowie den Ausstieg aus Verbrennungsmotoren und die Herstellung von grünem Stahl – dann prima! Ein Klimaklub kann dafür eine gemeinsame Basis bilden. Glaubwürdig sind aber nur sichtbare Taten.

Das zu lange Festhalten an fossilen Infrastrukturen widerspricht den Klimazielen. Was wir brauchen, ist Kooperation für erneuerbare Energien und Energiesparen – nicht für gemeinsame fossile Erdgasprojekte. Das schafft nur neue fossile Pfadabhängigkeiten und treibt die Klimakrise voran. Noch mehr fossile Energien zu fördern, mag sehr kurzfristig Symptome lindern, aber schon mittelfristig werden sie verschlimmert.

Und was war Ihre Überraschung der Woche?

Mich überrascht, dass wir keinen Energiewende-Gipfel machen. Der müsste zum Ziel haben, ein Notfall-Programm zur Lösung der fossilen Energiekrise auf den Weg zu bringen. Dazu würde gehören, sofort alle beantragten Erneuerbaren-Anlagen zu genehmigen, ein Ausbildungs- und Umschulungsprogramm für Fachkräfte auf den Weg zu bringen, statt des Einbaus neuer Gasheizungen ein umfassendes Wärmewende-Programm aufzulegen sowie Erdgas-Kraftwärmekopplung durch Solarthermie oder andere Erneuerbaren-Programme für die Industrie zu ersetzen.

Man bekommt ja den Eindruck, dass der Wirtschaftsminister fast allein an Lösungen arbeitet. Wichtig ist aber, dass sich alle Ministerien – Bau, Bildung, Justiz, Arbeit, Umwelt, Landwirtschaft, Verkehr bis hin zum Innenministerium – geschlossen für echte Lösungen einsetzen. Wir sind in einer ernsten Energiekrise und die Bundesregierung sollte als Team dauerhafte Antworten finden. Die Liste der dringend zu erledigenden Aufgaben wird immer länger, wenn weiterhin zu zögerlich gehandelt wird.

Fragen: Jörg Staude