Michael Müller
Michael Müller. (Foto: Martin Sieber)

Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrats erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Michael Müller, als SPD-​Politiker bis 2009 Parlamentarischer Staatssekretär im Umweltministerium, heute Bundesvorsitzender der Naturfreunde Deutschlands.

Klimareporter°: Herr Müller, dieses Jahr will das Klima- und Wirtschaftsministerium zwei große Gesetzespakete für die Energiewende vorlegen. Minister Robert Habeck nannte die Aufgaben in dieser Woche "gigantisch". Passen die vorgestellten Gesetzesprojekte auch dazu?

Michael Müller: Ich bestreite nicht, dass es nach 1992 ein großes Versagen im Klimaschutz gegeben hat – trotz mancher, dann aber meist nur kurzer Lichtblicke und personeller Ausnahmen.

Bis heute ist überwiegend – das gilt auch für Robert Habeck – nicht verstanden worden, dass die Klimakrise das Ende des bisherigen Modells der europäischen Moderne aufzeigt. Es wird nicht weitergehen wie bisher, wenn wir in der Logik eines "Mehr Fortschritt wagen" bleiben.

Das bisherige Verständnis von Fortschritt – das Schneller, Höher und Weiter – hat uns doch in die Krise geführt. Das geht nicht mehr, denn wir sind an ökologische Grenzen des Wachstums für menschliches Leben geraten, die auch mit einem grünen Wachstum nicht überschritten werden dürfen. Ich finde, dass die Vorschläge des Klimaministers machbarkeitsselig sind.

Ich bestreite nicht, dass wir den schnellen Umstieg auf die erneuerbaren Energien brauchen. Im Gegenteil: Ich fände es gut, stärker zu dem ursprünglichen Erneuerbare-Energien-Gesetz zurückzukehren.

Zu einer Energiewende gehören aber auch und besonders: Effizienzrevolution, Suffizienz, Demokratisierung und Dezentralisierung. Davon höre ich aber nichts.

Das entscheidende Problem ist die Überlastung unseres Planeten sowohl bei den Senken als auch den Rohstofflagern durch anthropogene Eingriffe. Die Klimakrise ist eine Menschheitskrise. Daran müssen sich die Vorschläge messen.

Sind sie in der Lage, die tiefe Krise des Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells zu beenden? Wann endlich beginnt die Debatte darüber? Insofern bin ich einfach nur enttäuscht.

In der jetzt wieder zu beschleunigenden Energiewende sieht der Solarexperte Eicke Weber das größte Konfliktpotenzial bei den alten fossilen Energieversorgern. Die würden bald Zeter und Mordio schreien, weil es um ihre Pfründen geht, sagte er im Klimareporter°-Interview. Hier müsse politischer Widerstand geleistet werden. Wie können die alten Energiekonzerne entmachtet werden?

Das ist natürlich ein politisches Problem. Auch weil die Transformation, die wir heute erleben, in erster Linie eine Folge der "Entbettung" der Märkte aus gesellschaftlichen Bindungen ist. Es geht heute um die Einbettung der Märkte. Das erfordert eine soziale und ökologische Gestaltung.

Ich befürchte allerdings, dass die Herausforderungen heute noch tiefer gehen. Natürlich sind die großen Verstromer seit vielen Jahrzehnten diejenigen, die den stärksten Widerstand gegen ökologische Vernunft leisten, dennoch besitzen einige von ihnen die Chuzpe, damit zu werben, sie seien "auf dem Weg zur Klimaneutralität". Das ist ein Plastikwort, das keine wissenschaftliche Seriosität besitzt.

Die Problematik geht aber tiefer. Die Klimakrise zwingt uns entweder zu einer autoritär-technokratischen Umstellung unseres Lebens von oben oder wir gestalten sie frühzeitig und demokratisch so, dass unsere Zukunft weder natur- noch menschenvergessen ist.

Von daher geht es um eine umfassende Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft. Dabei müssen wir von einem Entwicklungsmodell ausgehen, das die ökologischen Grenzen des Wachstums beachtet. Wir brauchen dafür eine Technik und eine Wirtschaft des Vermeidens ökologischer Schäden.

Das ist nicht nur eine Frage von Aufklärung und Vernunft, sondern angesichts der Machtverhältnisse auch ein Verteilungskampf. Wenn nicht mehr so viel zu verteilen ist, dann stellt sich die Gerechtigkeitsfrage in neuer Schärfe.

Kryptowährungen, die mit hohem Energieaufwand in Computern "geschürft" werden müssen, haben die Energiekrisen in Kasachstan und Kosovo akut verschärft. In Kosovo verbot die Regierung das energieintensive Krypto-Mining, wie bereits in China geschehen.

Zugleich reiht sich 2021 ein in die sieben wärmsten Jahre, die je gemessen wurden. In mehreren Regionen gab es extremes Wetter, das Wissenschaftler auf den Klimawandel zurückführen. Kann man zwischen beiden Nachrichten einen Zusammenhang sehen oder wäre das übertrieben?

Große Teile der wirtschaftlichen Entwicklung werden seit rund drei Jahrzehnten von einer Arbitrageökonomie geprägt, die vor allem auf Spekulation aufbaut. Das gilt auch für Rohstoffe und ist ein zentrales Zukunftsthema der enger werdenden und überlasteten Welt.

Es geht nicht nur darum, die fossile Welt zu beenden – generell muss die Rohstofffrage zu einer zentralen Frage einer Weltinnenpolitik werden. So wie das übrigens nach 1945 bereits durch John Maynard Keynes in der UNO – als Erweiterung der Währungsordnung von Bretton Woods – diskutiert wurde. Das blieb aber folgenlos, weil sich die Vorherrschaft der Märkte durchsetzte.

Das "Schürfen" von Bitcoin oder Ethereum boomt und macht nicht zuletzt durch den gewaltigen Energieverbrauch die Gefahren dieser fragwürdigen Arbitrage deutlich. Insbesondere die Vorgänge in Kasachstan und die möglichen Folgen für die Weltwirtschaft machen deutlich, wie dringend eine weltweite Rohstoffpolitik und eine Zurückdrängung der Arbitragewirtschaft notwendig sind.

Das alles zeigt die Instabilität der Weltwirtschaft durch die Arbitrageinteressen und die wachsende Bedeutung von Ressourcenkonflikten. Der Handlungsbedarf ist groß.

Die EU wird in ihrer Taxonomie neben Erdgas voraussichtlich auch neuen Atomkraftwerken ein grünes Siegel geben. Dennoch sprechen Kommentatoren von einer nuklearen Dämmerung. Ist die Zeit für die Atomenergie wirklich schon abgelaufen?

Ich war und bin skeptisch, denn vor allem die Energiewirtschaft, aber auch Militärs träumen immer noch von einer Renaissance der Atomenergie. Da spielen unterschiedliche Interessen eine Rolle.

Ärgerlich ist auch, dass die Energiewende immer stärker auf die Erneuerbaren reduziert wurde. Das Konzept der Energiewende beruht auf den drei E: Erneuerbare, Einsparen und Effizienzrevolution.

Bei der Effizienzrevolution ist nicht die Steigerung der Effizienz im wirtschaftlichen und technischen Trend gemeint, sondern es sind politische Rahmensetzungen gefordert, die eine höchstmögliche Reduktion des Energieeinsatzes ermöglichen. In Szenarien des Bundestages zum Klimaschutz wurde ermittelt, dass insgesamt rund 40 Prozent Energieeinsparung durch eine gezielte und umfassende Effizienzstrategie möglich sind.

In einer Gesellschaft, die ihre Effizienzpotenziale nutzt, auf 100 Prozent Erneuerbare zu kommen, ist etwas anderes als in der heutigen, wo das nicht mit Nachdruck verfolgt wird. Auch deshalb bedauere ich, dass die Effizienzstrategie im Klimaministerium nur eine Randfunktion hat.

Im Bundestag haben wir bereits 1988 zur Atomenergie festgestellt: Klimaschutz ist nicht allein mit dem Austausch der Energieträger zu erreichen, notwendig ist ein weitreichender Umbau des Energiesystems, der von den Rohstoffen über die Wandlung und Nutzung bis zur Entsorgung reicht. Kurz: Wer bei der Klimakrise nach der Atomenergie ruft, hat das Problem nicht verstanden.

Und was war Ihre Überraschung der Woche?

Mich bewegt insbesondere die Explosion der Coronazahlen. Wieso kann immer noch gesagt werden, es fehle an Aufklärung und Information, damit sich alle impfen lassen? Wer die Gefahren immer noch nicht kennt, der lebt in einer anderen Welt.

Was wird erst bei einer massiven Verschärfung der Klimakrise passieren? Welche Rolle spielen dann die Klimaleugner? Wie gefährdet wird die Demokratie sein?

Mich überrascht die selbst bei der Zuspitzung der Pandemie so festgefressene Ausblendung der Realität.

Fragen: Jörg Staude

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