Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrats erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Michael Müller, als SPD-Politiker bis 2009 Parlamentarischer Staatssekretär im Umweltministerium, heute Bundesvorsitzender der Naturfreunde Deutschlands.
Klimareporter°: Herr Müller, für Samstag hatten Gewerkschaften, Sozial- und Umweltverbände bundesweit zu Demonstrationen für einen "Solidarischen Herbst" aufgerufen. Bundesweit haben sich 24.000 Menschen beteiligt. Gefordert wurden deutliche Entlastungen von Geringverdienenden, eine gerechte Belastung von Reichen und Krisengewinnlern und ein Ende der Abhängigkeit von fossilen Klimakiller-Energien.
Rechte und konservative Kräfte machen dagegen die Energiewende für die hohen Energiepreise und sozialen Probleme verantwortlich und finden dafür auch Zustimmung. Wie sehen Sie die Lage?
Michael Müller: Wir erleben derzeit den Ernstfall der Transformation, der zugleich eine soziale und eine ökologische Gestaltung erfordert. An dieser Frage wird sich auch entscheiden, ob rechtsnationalistische Parteien wie die AfD Auftrieb bekommen oder nicht. Die zunehmend starken Demos der AfD zu diesem Thema sind ein alarmierendes Zeichen.
Die Befürchtung ist nicht neu, dass die Zukunft von erbitterten Verteilungskämpfen bestimmt werden wird. Heute zeigt sich auch, dass die dritte Säule der Energiewende – neben erneuerbaren Energien und Suffizienz – in den letzten Jahrzehnten sträflich vernachlässigt wurde: die Energieeffizienz.
Der Energieeinsatz bei der Wandlung und Nutzung muss durch technisch-infrastrukturelle Maßnahmen drastisch gesenkt werden. Das ist möglich, wurde aber dramatisch vernachlässigt. Alle Klima-Szenarien gehen davon aus, dass der Einsatz fossiler Brennstoffe – durch den CO2-Preis – deutlich teurer wird, was gerade sozial schwächere Bevölkerungsgruppen trifft.
Aber die sozialen Konsequenzen wurden reduziert auf Maßnahmen, die völlig unzureichend sind. Auf jeden Fall haben Corona und Krieg die Unterschiede zwischen Arm und Reich größer gemacht.
Fest steht: Die ökologische Wende ist ohne soziale Gerechtigkeit nicht möglich, soziale Gerechtigkeit nicht ohne ökologischen Umbau. Insofern war es gut, dass die Demonstrationen zum "Solidarischen Herbst" beide Ziele gleichberechtigt vertreten haben. Das ist ein wichtiger Schritt.
Es wäre aber falsch, alles hinter Putin zu verstecken. Der Krieg ist nicht zu rechtfertigen. Aber ein sozial-ökologischer Gestaltungsprozess, der nicht nur preisliche, sondern auch ordnungsrechtliche Instrumente einsetzt, ist unabdingbar, auch unabhängig davon.
Bundeskanzler Scholz entschied am Montag mit seiner Richtlinienkompetenz, dass die drei letzten Atomkraftwerke noch bis Mitte April im Streckbetrieb weiterlaufen. Hätten Sie erwartet, dass ein Regierungschef mit SPD-Parteibuch mal so eine "Basta"-Entscheidung trifft?
Ob das nach den vielen Gesprächen zwischen den beiden Hauptkonkurrenten FDP und Grüne eine "Basta"-Entscheidung war, da habe ich meine Zweifel. Die Debatte war in einer Sackgasse, der Kanzler hat zwischen den Streitparteien in einer Weise entschieden, die aus seiner Sicht vertretbar ist.
Ich teile den Vorschlag nicht. Persönlich war mir die Ausstiegsfrist für die deutschen Atomkraftwerke schon vorher zu lang. Aber auch hier zeigt sich das Dilemma, dass die Energiewende den strukturellen und industriepolitischen Pfad der Effizienzrevolution nicht verfolgt hat.
Die Atomenergie ist Teil der ineffizienten Verbundwirtschaft, die eine Energiewende blockiert oder zumindest erschwert. Sie wird nicht nur wegen der ungelösten Frage der radioaktiven Abfälle und wegen der unvertretbaren Gefahren abgelehnt, sondern auch wegen ihrer systembedingten Zwänge, die einen hohen Energieverbrauch fördern.
Die Energiewende ist nicht nur eine technische Frage, sondern auch eine strukturelle, die von der Atomenergie blockiert wird.
Aus dem Wirtschaftsministerium sind erste Vorschläge für die Strompreisbremse bekannt geworden. Vorgesehen ist auch eine rückwirkende Abschöpfung von Zufallsgewinnen seit März 2022. Die Erneuerbaren-Branche ist entsetzt und warnt vor einem Verfassungsbruch. Wie würden Sie mit den Gewinnen umgehen, die vielen Stromerzeugern durch die hohen Preise einfach so in den Schoß fallen?
Ich persönlich verstehe nicht, warum es keinen Preisdeckel gibt, der direkt wirkt. Es gibt doch einen Aufstand, wenn die Maßnahmen erst im März 2023 wirksam werden. Hier wurde viel Mist gemacht. Es ist der Ernstfall, er erfordert auch ein radikaleres Denken und Handeln.
Mit knapper Mehrheit stimmte der Parteitag der Grünen am Sonntag gegen ein Räumungs-Moratorium für den Ort Lützerath im Rheinischen Braunkohlerevier. Vorausgegangen war eine kontroverse und emotionale Debatte. Wie hätten Sie entschieden – für oder gegen das Abbaggern von Lützerath?
Dagegen. Auch hier spielt das erwähnte strukturelle Defizit eine zentrale Rolle. Vor diesem Hintergrund beneide ich die aktuelle Politik nicht für die anstehende Entscheidung, aber ich bin schon verärgert, dass es in den letzten Jahrzehnten eine solche Vernachlässigung der Effizienzrevolution gab.
Natürlich war es gut, die erneuerbaren Energien zu fördern, obwohl auch hier erhebliche Fehler gemacht worden sind, besonders durch die Deckelungen. Aber erneuerbare Energien und Effizienzrevolution müssen als Einheit gesehen werden.
Die Minderung des Energieverbrauchs wird noch immer in erster Linie als individuelle Aufgabe gesehen. Natürlich gibt es auch eine persönliche Verantwortung, aber noch entscheidender sind industrielle und handwerkliche Strukturreformen für eine Effizienzrevolution, also für eine Energieminderung, die weit über das Trendsparen hinausgeht.
Und was war Ihre Überraschung der Woche?
Sechs Wochen vor der UN-Klimakonferenz in Ägypten wird fast überhaupt nicht darüber geredet. Ich sehe nicht, dass der Klimaschutz gestärkt wird. Die Zeit läuft weg.
Fragen: Jörg Staude