Kohle stoppen reicht nicht, es müssen auch Alternativen für die Kohleregionen entwickelt werden. (Foto: Ilias Bartolini/​Flickr)

Die 2015 auf dem Klimagipfel in Paris beschlossene vollständige Dekarbonisierung des weltweiten Energiesystems ist ohne jeden Zweifel eine "Jahrhundertaufgabe". Industrieländer wie Deutschland müssen sie allerdings schon in wenigen Jahrzehnten vollenden, um einerseits ihrer historischen Verantwortung gerecht zu werden und andererseits eine Blaupause für die weltweite Transformation des Energiesystems bereitzustellen. Anderenfalls erscheint es aussichtslos, den globalen Temperaturanstieg wie von der Staatengemeinschaft angestrebt bei "deutlich unter zwei Grad" zu halten.

Im Energiekonzept der Bundesregierung werden dafür grundsätzlich die richtigen Weichen gestellt: Die Energiewendeziele aus den Jahren 2010 und 2011 beruhen auf dem Zweiklang zwischen einer beschleunigten Steigerung der Energieeffizienz und dem Ausbau erneuerbarer Energien. Hinzu kommt der aus Gründen der Risikominimierung beschlossene Ausstieg aus der Atomenergie bis zum Jahr 2022.

Folgt man den ebenfalls im Energiekonzept formulierten Zielen für die Minderung der Treibhausgasemissionen – nämlich 80 bis 95 Prozent Reduktion bis 2050 gegenüber 1990 –, dann ist für die deutsche Kohleverstromung und die besonders klimabelastende Braunkohle seit Jahren klar: Es muss einen planvollen, sozial- und wirtschaftsverträglichen Ausstieg geben.

Durch die zielorientierte Klimapolitik wird ein staatlich beschleunigter ökonomischer Strukturwandel ausgelöst, der – wie jeder marktwirtschaftliche Strukturwandel – "Gewinner und Verlierer" hat. In den betroffenen Regionen und Branchen fallen angestammte Arbeitsplätze weg, für die ein sozialverträglicher Ausgleich geschaffen werden muss. Durch einen zielgerichteten und selbstbestimmten Strukturwandel müssen neue Chancen in der Region geschaffen werden.

Vorsorge, Diversifizierung, Nachhaltigkeit, Regionalisierung

Die Förderung dieses Strukturwandels ist eine klassische Aufgabe für eine unterstützende sowie – in den Kohleregionen von Lausitz und Rheinland – regionalisierte sozial-ökologische Industriepolitik. Die potenziellen Nachteile der Region gegenüber dem Status quo gilt es durch ein verantwortliches Management der Energiewende zu kompensieren: Vorsorgende staatliche Klima- und Ressourcenschutzpolitik schafft nicht nur neue Marktchancen für Gewinner, sondern kümmert sich aktiv und frühzeitig um potenzielle Verlierer. Sie brauchen rechtzeitig Unterstützung für Innovationen, Diversifizierung und Geschäftsfeldentwicklung.

Foto: Wuppertal Institut

Manfred Fischedick

Der Energiesystemforscher Manfred Fischedick ist Vizepräsident des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie.

Eine solche sozial-ökologische Transformation stützt sich auf unterschiedliche Formate – zum Beispiel die Förderung durch einen Struktur- und Anpassungsfonds, den Aufbau regionaler Innovationsagenturen, das Anschieben von Allianzen und Netzwerken, die Gestaltung von Partizipationsprozessen. Sektorübergreifend – und nicht nur im Energiebereich – sind dabei neue Geschäftsfelder und nachhaltigere, regionalisierte Produktions- und Konsum-Strukturen zu entwickeln.

Das Tempo muss sich verdoppeln

Eine Analyse repräsentativ ausgewählter aktueller deutscher Klimaschutzszenarien hat gezeigt, dass die Stromerzeugung aus Braun- und Steinkohle bei einer Orientierung am 80-Prozent-Minderungsziel schon im Jahr 2030 um 40 bis 46 Prozent unter der heutigen Erzeugung liegen muss. Legt man das 95-Prozent-Ziel zugrunde, muss der Rückgang mit etwa 70 bis 85 Prozent noch viel stärker sein.

Technisch ist das möglich, ist es aber auch wirtschaftlich machbar? Studien für das Bundesumweltministerium und den Industrieverband BDI zeigen: Für die deutsche Wirtschaft können mit einer ehrgeizigen Klimaschutzstrategie gesamtwirtschaftliche Vorteile ebenso verbunden sein wie eine starke Wettbewerbsposition auf den großen Leitmärkten der Zukunft: Energie- und Ressourceneffizienz, erneuerbare Energien, nachhaltige Mobilität.

Porträtfoto Peter Hennicke
Foto: VisLab/​Wuppertal Institut

Peter Hennicke

Peter Hennicke war acht Jahre lang Präsident des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie. Der Energieökonom ist Mitglied des Club of Rome.

Als führendes Industrieland kann und muss sich Deutschland aus Gründen der Glaubwürdigkeit am oberen Reduktionsziel orientieren: 95 Prozent weniger Klimagase bis 2050. Für 2030 bedeutet das eine Reduktion der Kohleverstromung bereits um 75 Prozent im Vergleich zu heute. Zugleich muss bis dahin der Anteil erneuerbarer Energien am Bruttostromverbrauch von heute 36 Prozent auf mindestens 60 Prozent bei einer 80-Prozent-Zielvorgabe und auf deutlich über 60 Prozent beim 95-Prozent-Ziel ansteigen.

Der Koalitionsvertrag hat für 2030 das Ziel für den Anteil der erneuerbaren Stromerzeugung auf 65 Prozent festgelegt und damit die richtige Größenordnung vorgegeben. Ohne Zweifel sind diese anspruchsvollen Ziele erreichbar, denn inzwischen liegen zahlreiche Erfahrungen für die variable Stromerzeugung aus Sonne und Wind mit entsprechenden Flexibilitätsoptionen zur Versorgungssicherheit vor.

Eine veritable Effizienzrevolution

Andererseits tut sich eine wachsende Umsetzungslücke bei der Steigerung der Energieproduktivität auf. Trotz erkennbarer Anstrengungen der Bundesregierung ist der Nachholbedarf inzwischen gravierend. Repräsentative Szenarien gehen davon aus, dass der bisherige Durchschnitt von 1,4 Prozent jährlicher Steigerung der Energieproduktivität zwischen 2000 und 2014 stark angehoben werden muss – auf 2,1 bis 2,7 Prozent, und zwar für jedes Jahr bis 2050.

 

Nur einer der Wege dorthin sind klassische Effizienzverbesserungen bei strombezogenen Querschnittstechnologien – elektrische Kraftanwendungen, Beleuchtung, Pumpen, Druckluft, Hausgeräte. Hinzukommen müssen eine Verdopplung der jährlichen energetischen Sanierungsraten im Gebäudebestand sowie der beschleunigte Übergang zur energieeffizienteren Elektromobilität.

Es geht um nichts anderes als eine veritable Effizienzrevolution, begleitet durch mehr Genügsamkeit und Nutzenorientierung beim Energieeinsatz, wenn die Primärenergie tatsächlich entsprechend den Energiewendebeschlüssen bis 2050 halbiert werden soll. Nicht nur für den Klima- und Ressourcenschutz, sondern auch zur Reduktion von Energiekosten, Importabhängigkeit und Energierisiken wäre ein solcher Ansatz nach vorliegenden Analysen ein unschätzbarer Gewinn. 

Wo stehen wir heute? Der beschleunigte Strukturwandel im Strom-, Verkehrs- und Wärmesektor wurde zwar vielfach angekündigt, aber bisher nicht in der notwendigen Breite vollzogen. Leider hat das die Energiewende so weit verzögert, dass jetzt die Zeit drängt. Die Gefahr ist groß, dass nach dem deutschen CO2-Minderungsziel für 2020 auch das für 2030 verfehlt wird. Damit würde Deutschlands Glaubwürdigkeit in der Klimapolitik dauerhaft Schaden erleiden. Massive Auswirkungen für die Etablierung auf den wachsenden Klimaschutz-Exportmärkten wären die Folge. Für die bisherige internationale Anerkennung der "Energiewende made in Germany" wäre das der Super-GAU.

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