Demo-Schild mit Aufschrift
Klar, das weiß doch jeder! Trotzdem tut die Politik bisher so, als müssten die protestierenden Jugendlichen erst mal erwachsen werden. (Foto: Niklas Pntk/​Pixabay)

Die derzeitige Koalitionsbildung geschieht nicht in üblichen Zeiten. Oder um es mit Erich Kästner zu sagen: "Das geht auf keinen Fall so weiter, wenn das so weiter geht."

Wir sind an einer historischen Weichenstellung, an der sich die Gestaltungs- und Verteilungsfrage wieder in aller Schärfe stellt. Das ist die Ausgangslage für die sich nun zum Ende neigenden Koalitionsberatungen, daran muss die neue Bundesregierung gemessen werden.

Die Demokratie steht nicht nur wegen der Corona-Pandemie vor einer gewaltigen Bewährungsprobe, deren Ausgang ungewiss ist. Das scheinen die drei Parteien zumindest zu spüren, wenn sie eine "Fortschrittskoalition" oder eine "progressive Mitte" ankündigen. Es soll sich also was verändern. Doch entscheidend ist, ob die Politik – im konkreten Fall die neue Koalition – zwei große Herausforderungen bewältigen kann.

Zum einen steckt das "alte Modell" des sozialstaatlichen Kapitalismus in einer tiefen Krise, die alle bisherigen Umbrüche weit übertrifft. Nachdem Ende der 1970er Jahre der "Rheinische Kapitalismus" endete, der im fordistischen Industriezeitalter die Gesellschaften zwischen Kapital und Arbeit geordnet und straff koordiniert hatte, folgte den 1980er Jahren der Aufstieg des neoliberalen Finanzkapitalismus.

Heute hat sich, wie Nancy Fraser das beschreibt, eine neue Allianz herausgebildet, eine zwischen Finanzkapital, Digitalwirtschaft und Medien einerseits und liberal-individualistischen Strömungen sozialer Bewegungen andererseits.

Was auf den ersten Blick widersprüchlich erscheint, ist deshalb möglich, weil der "progressive Neoliberalismus" systemkonform und unternehmensfreundlich bleibt. Doch er bietet keine Lösungen und führt zur Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Ist es das, was bei der neuen Koalition herauskommt?

Zum anderen sind auch die Fundamente des sozialstaatlichen Gesellschaftsvertrags längst brüchig geworden. Seine Grundlagen waren wirtschaftliches Wachstum und technisches Irrtumslernen, deren Ergebnis die Basis gesellschaftlichen Fortschritts darstellte.

Diese Idee der europäischen Moderne, der Gedanke einer stetigen linearen Vorwärtsbewegung, ist zum Weltmodell aufgestiegen. Doch das quantitative Wachstum verändert die Stabilität des Erdsystems. Es zerstört, wie die Klimakrise, der ökologische Fußabdruck oder die planetaren Grenzen zeigen, die Voraussetzungen des menschlichen Lebens.

Von daher geht es heute nicht nur um eine Krise innerhalb des gesellschaftlichen Systems, sondern mehr noch um eine Krise des Systems selbst. Das alte "Schneller, Höher, Weiter" – vorangetrieben von der kapitalistischen Gesellschaftsstruktur mit möglichst hohem Wachstum und ständigem technischen Fortschritt – ist nicht mehr zu halten.

Jetzt brauchen wir eine nachhaltige Entwicklung, die mit der Tragfähigkeit unseres Planeten für die menschliche Zivilisation kompatibel ist. Es geht um die Gestaltung einer neuen Qualität, die Ökologie mit Gerechtigkeit, Innovationen und Demokratie verbindet.

Vor diesem Hintergrund müssen die Koalitionsverhandlungen gesehen werden. Ein politics as usual darf es nicht geben, das kann keine Zukunft haben.

Rot, Grün und Gelb brauchen eine gemeinsame Idee von der Zukunft unserer Gesellschaft und den Mut, sie gestalten zu wollen. Die neue Koalition muss mit den alten Konzepten brechen, nicht punktuell, sondern mit Strukturreformen. Sie braucht den Mut und die Kreativität für eine grundlegende Modernisierung. Unsere Zeit erfordert einen neuen Gesellschaftsvertrag.

Sozial, ökologisch und frei 

Auf der Basis von Aufklärung ist der Maßstab der Vernunft die entscheidende Grundlage für eine rationale Welt. Dennoch birgt dieser Prozess, wie wir aus der Dialektik der Aufklärung von Theodor Adorno und Max Horkheimer wissen, auch die Gefahr einer rein kalkulierenden und instrumentellen Denkweise in sich, einer Rationalisierung des Lebens, die in den Abgrund führt.

Heute ist ein Denken und Handeln notwendig, das von den ökologischen Grenzen des Wachstums ausgeht und die Verteilungsfrage neu stellt. Daran müssen sich die fest eingeübten Denkweisen und Interessen der europäischen Moderne messen lassen.

Die bisherige Leitidee der Linearität, die im letzten Jahrhundert immer stärker auf die Entfaltung des wirtschaftlich-technischen Wachstums ausgerichtet wurde, ist dringend zu verwerfen. Aber ihre Kernidee, die Emanzipation der Menschen, muss in einer neuen Form, die sozial und ökologisch begründet ist, gestärkt und erweitert werden.

Der jüngste Bundeskongress der Naturfreunde Deutschlands hatte im vergangenen Oktober das Leitmotto "Leben in der Menschenzeit – sozial, ökologisch, frei". Man könnte fast glauben, das sei eine Botschaft für die Koalitionsverhandlungen von SPD, Grünen und FDP gewesen, doch der Slogan war bereits vor zwei Jahren festgelegt worden.

Michael Müller

ist Bundes­vorsitzender der Natur­freunde Deutsch­lands. Der umwelt­politische SPD-Vordenker war Bundes­tags­abgeordneter und von 2005 bis 2009 Parlamentarischer Staats­sekretär im Bundes­umwelt­ministerium. Er ist Heraus­geber­rats­mitglied von Klimareporter°.

Jedenfalls ist das Motto geeignet, die kommenden Koalitionsvereinbarungen zu bewerten und zu spiegeln – mit dem Ziel einer sozial-ökologischen Gestaltung der Transformation.

Der Ausgangspunkt ist die neue geologische Erdepoche des Anthropozäns – der "Menschenzeit" –, die uns, was immer noch viel zu wenig erkannt ist und noch weniger debattiert wird, vor grundlegend neue Herausforderungen stellt und die Zukunft der Menschheit entscheidend bestimmen wird.

Die Alternative heißt: entweder erbitterte Verteilungskämpfe bis zur Selbstvernichtung der menschlichen Zivilisation – oder Umdenken und grundlegende Strukturreformen, die von der Ökologie ausgehen. 

Anders gesagt: immer mehr Gewalt, Krieg und Verteilungskonflikte in der zusammengewachsenen Welt oder eine neue Form von Emanzipation mit mehr Demokratie und sozialer Gerechtigkeit. Wirtschaft und Gesellschaft umbauen, darum geht es heute.

Keine Frage: Von dieser Einsicht sind die drei Koalitionsparteien weit entfernt. Bei der SPD ist der Widerspruch zwischen ihren programmatischen Aussagen zum Beispiel im Hamburger Grundsatzprogramm und der praktischen Politik eklatant. Noch immer ist ihr nicht klar, dass sie mit ihrer Idee des sozialen Fortschritts den wichtigsten Schlüssel auch für den ökologischen Umbau in der Hand hat.

Die Grünen haben es bis heute nicht geschafft, die Umwelt- und Klimapolitik zur Gesellschaftspolitik zu machen. Es geht eben nicht nur um Ausstiegsfristen und neoliberale Ergänzungen zum Beispiel durch eine CO2-Bepreisung, die – um eine Lenkungswirkung zu haben – weit über alle heutigen Modelle hinausgehen müsste. Sondern es geht um gesellschaftliche und ökonomische Strukturreformen, die uns auf das ökologische Maß der Tragfähigkeit unseres Planeten zurückbringen.

Und die FDP glaubt immer noch an die Freiheit des Marktes, die uns doch in das heutige Dilemma geführt hat.

Dennoch: Stellen wir uns vor, die drei Parteien hätten sich gemeinsam auf das Leitthema Anthropozän verständigt, als Ausgangspunkt für eine sozial-ökologische Gestaltung der Transformation. In unserer durchrationalisierten Welt, die ins Totalitäre umzuschlagen droht, ist das unabdingbar, zumal die Alltagspolitik immer tiefer in Sackgassen gerät.

Die Natur beginnt bereits sich zu wehren. Oder um es mit Laudato Si‘, der Öko-Enzyklika des Vatikans, zu sagen: Am Ende zerstört der Mensch nicht nur die Natur, die unsere Heimat geworden ist, sondern sich selbst.

Ein neuer Gesellschaftsvertrag

Die neue geologische Erdepoche des Anthropozäns, die 2015 auf dem Weltkongress der Geologen in Kapstadt ausgerufen wurde, beschreibt nicht nur eine naturwissenschaftliche Frage für die Einordnung unseres Erdsystems, sie hat auch weitreichende Konsequenzen für die Organisation des menschlichen Lebens in Wirtschaft und Gesellschaft.

Natürlich kann unser Land nicht alle Probleme lösen, auch nicht die ökologischen Probleme der Welt. Aber es kann als starke Industrienation mit einer herausgehobenen Stellung auf den Weltmärkten zeigen, was getan werden muss.

Und das möglichst erfolgreich. Wir müssen zu einem neuen europäischen Modell finden, das weltweit ausstrahlt: reflexiv, ökologisch, sozial und demokratisch.

Dafür brauchen wir ein Verständnis von Lebensqualität, bei dem nicht nur die Chancen gerecht verteilt sind, sondern auch der Überfluss endet, damit es keinen Mangel gibt. Wir müssen nicht nur eine solare Revolution hinbekommen, sondern auch die Verbrauchsmengen in allen Bereichen reduzieren. Nicht jeder Einzelne, aber unsere Gesellschaft lebt über die Verhältnisse unseres Planeten.

Und wir müssen zugleich schnell und demokratisch sein. Die Demokratie ist weltweit auf dem Rückzug. Würden demokratisch verfasste Länder die soziale und ökologische Gestaltung der Transformation hinbekommen – es wäre eine Leistung, die weit über den Klimaschutz hinausgeht.

Gleichzeitig darf der Klimaschutz nicht die soziale Spaltung vertiefen, was heute die wahrscheinlich größte gesellschaftspolitische Bedrohung ist. Auch deshalb geht es nicht allein um Ökologie, sondern um die Zukunft der Gesellschaft auf der Basis ökologischer Notwendigkeiten.

Von daher muss Rot-Grün-Gelb bedeuten: Alle gehen gemeinsam von der naturwissenschaftlichen Herausforderung des Anthropozäns aus, also von der Überlebensfähigkeit der Menschheit. Sie wollen eine Welt, die weder Mangel noch Überfluss kennt.

Tacheles!

In unserer Kolumne "Tacheles!" kommentieren Mitglieder unseres Herausgeberrats in loser Folge aktuelle politische Ereignisse und gesellschaftliche Entwicklungen.

Die SPD bringt dabei die Weiterentwicklung ihrer sozialen Kompetenz ein, die erneut das Bindemittel für den Zusammenhalt der Gesellschaft und die Grundlage der Demokratie sein muss.

Die Grünen erweitern ihre theoretisch unbefleckte Umwelt- und Klimapolitik zur Gesellschaftspolitik, die alle Schichten einbezieht. Dafür müssen sie auch ihre neoliberalen Ausschweifungen beenden.

Und die FDP besinnt sich wieder auf die Freiburger Thesen und darauf, dass sie vor 50 Jahren der Motor für das erste Umweltprogramm in Deutschland gewesen ist.

Auch wenn man sich das alles im Augenblick noch schwer vorstellen kann, die Hoffnung stirbt zuletzt.

Auf jeden Fall brauchen wir einen neuen Gesellschaftsvertrag, um die soziale und ökologische Gestaltung der Transformation hinzubekommen. Es wäre nach der "sozialen Marktwirtschaft" ein zweiter, allerdings sehr viel weitergehender Vertrag – sozial, ökologisch und frei.

 

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