Elbe-Hochwasser 2002 in Dresden
Elbe-Hochwasser 2002 in Dresden: 20 Jahre später gibt es anscheinend nur eine Veränderung: Die Bilder fallen noch dramatischer aus. (Foto: Stefan Malsch/​Wikimedia Commons)

"Oh Gott!" Zwei Wörter, ein Ausrufezeichen, sonst nichts. Die Riesen-Schlagzeile der Bild-Zeitung vom Samstag.

Am Freitag war klar geworden, dass die Unwetter-Katastrophe in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen die bisher gekannten Dimensionen sprengt. Oh Gott! – das drückt Fassungslosigkeit aus.

Und fassungslos zu sein war die Reaktion, die jeden von uns beschlich. Auch mich, der ich als Journalist seit mehr als 30 Jahre über den Klimawandel schreibe. Und der gefühlt tausendmal in Artikeln davor gewarnt hat, dass Extremwetter-Ereignisse häufiger und vor allem auch heftiger ausfallen werden, wenn der Mensch die Atmosphäre weiter ungebremst mit Treibhausgasen aufheizt. Ein tiefer Schock. Die Sorge, was noch alles kommen mag.

Das Gefühl, hier läuft etwas gewaltig aus dem Ruder, kommt nicht von ungefähr. Das Ausmaß der jüngsten Katastrophe hat auch die Fachwelt überrascht. "Das aktuelle Ereignis liegt für viele Kenngrößen außerhalb jeglicher bisheriger Beobachtungen", analysiert der Karlsruher Klimaexperte Christian Grams, der das letzte Extrem-Hochwasser in Deutschland untersucht hat, von dem 2013 viele Bundesländer betroffen waren.

Diesmal stellte er fest: sehr hohe Niederschlagsmengen in kurzer Zeit, ein relativ großes betroffenes Gebiet, extreme Abflussmengen von Bächen und Flüssen. Nicht mehr wegzudiskutieren.

Ich erinnere mich noch gut an ein Treffen mit Deutschlands renommiertestem Klimaforscher, Hartmut Graßl, im Jahr 2003.

Es war der Hitzesommer, der europaweit mehrere Zehntausend Opfer fordern sollte, vor allem unter älteren und vorerkrankten Menschen. Der Professor sagte damals, er habe erwartet, die Klimaerwärmung werde etwa ab 2000 nicht nur in den Daten der Meteorologen erscheinen, sondern auch im normalen Leben spürbar sein – durch stärkere Extremereignisse.

Die verheerende Elbeflut 2002 passte dazu, ebenso jener Sommer 2003. Inzwischen hat es eine ganze Reihe weiterer Jahre mit Megafluten gegeben, dazu extreme Sturmereignisse, zuletzt die Hitze- und Trockenjahre 2018 bis 2020.

Der Plan von 1990 hätte uns 2030 CO2-neutral gemacht

Es fügt sich ins Bild. Doch die Unwetter 2021 sind ein Fanal. Der Klimawandel ist nichts, was nur Entwicklungsländer im Süden, oder andere ferne Regionen wie Kalifornien oder Australien betrifft. Er findet bei uns statt, und nicht erst in ein paar Jahrzehnten, wenn die Erderwärmung 1,5, zwei oder sogar drei Grad erreicht haben kann. Sondern schon jetzt, bei noch "moderaten" 1,2 Grad.

Und nun? Nur "Oh Gott!" titeln? Und dann die nächste Schlagzeile gegen die CO2-Abgabe vorbereiten? Eine neue "Benzinwut" anstacheln? Nein. Es braucht eine schonungslose Analyse der Klima- und der Klimaanpassungs-Politik der letzten 30 Jahre, die versagt hat. Ergebnis vorab: Wissen ist nicht Macht. Muss es aber werden.

Bereits 1990 legte die erste Klima-Enquete des Bundestages ihren Bericht vor, der auf 1.680 Seiten die Zerstörung der Erdatmosphäre beschrieb – neben dem Ozonabbau vor allem die Klimakrise – und auch die notwendigen Gegenmaßnahmen.

Wäre die Bundesregierung den Enquete-Vorschlägen seither gefolgt, könnten wir heute eine CO2-Reduktion um fast 70 Prozent vorweisen. 2030 könnte die Klimaneutralität erreicht sein. Deutschland wäre tatsächlich Vorreiter beim Klimaschutz.

Schwarz-Gelb, Rot-Grün, die Grokos – alle haben, unter dem Druck mächtiger Lobbys aus der Energie-, Auto-, Bau- und Agrarwirtschaft, mehr oder minder versagt. 1990 war die Kohl-Genscher-Regierung im Amt. Sie folgte der Enquete-Blaupause nicht, sie ruhte sich darauf aus, dass der Zusammenbruch der DDR-Industrie schon genug Klimaschutz-Erfolge liefern würde.

Kanzler Kohl lobte seinen ambitionierten Umweltminister Klaus Töpfer (CDU) ins Bauministerium weg, ersetzte ihn durch die leichter steuerbare junge Angela Merkel (CDU). Moderne Ansätze wie die Öko-Steuerreform, für die sogar der damalige Fraktionschef Wolfgang Schäuble (CDU) Sympathien erkennen ließ, wurden beerdigt.

Die rot-grüne Bundesregierung ab 1998 wagte einen, freilich begrenzten, Aufbruch ins ökologische Zeitalter. Mit Ökosteuer, Einführung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes, Atomausstieg.

Die Ökosteuer fiel schwach aus und wurde vorzeitig beerdigt, was Ex-Regierungschef Schröder (SPD) nach Ende der Amtszeit in einem seltenen Moment der Selbstkritik als Fehler bezeichnete, und der Atomausstieg fatalerweise mit einem teilweisen Neueinstieg in die Kohle begleitet.

Das EEG hingegen erwies sich als geniale Erfindung. Die Umlagefinanzierung hat Wind- und Solarenergie von der Nische ins Zentrum geholt und durch Mengeneffekte enorme Kostensenkungen ausgelöst. Über 80 Staaten weltweit kopierten das Gesetz. Immerhin, ein echter Lichtblick.

Bodenpolitik schuf Rollbahnen für die Megafluten 

Danach kamen 16 Jahre Merkel. Und ausgerechnet mit einer Physikerin als Kanzlerin ging Schere zwischen Wissen und Handeln weiter auf. Das war nicht nur Stillstand, sondern sogar ein Rollback, der auch durch die Unterschrift unter den Pariser Klimavertrag nicht gestoppt wurde.

Für mich ist immer noch unfassbar, wie Merkels Minister Altmaier (CDU), Rösler (FDP) und Gabriel (SPD) das EEG-Erfolgsmodell demontierten und den Niedergang der deutschen Zukunftsindustrien Solar- und Windenergie auslösten.

Das alles inzwischen ergänzt mit einem Kohleausstieg, der mit 2038 um zehn Jahre zu spät kommt, und einer Verkehrspolitik original wie aus dem letzten Jahrhundert.

Hinzu kam, als zweiter wichtiger Faktor, dass auf allen Ebenen – vom Bund bis zu den Kommunen – Vorbeugung und Anpassung an die extremeren Wetterlagen vernachlässigt wurde. Man betrieb eine Bodenpolitik, die Rollbahnen für die Megafluten schuf. Nun kam die grausame Quittung dafür.

Natürlich kann man Merkel und Co oder die Lobbyisten nicht direkt für die Unwetter-Katastrophe verantwortlich machen. Die Flut war und ist ein Naturphänomen, das jedoch durch menschlichen Einfluss seine schockierende Dimension angenommen hat.

Die Bundesrepublik ist derzeit für rund zwei Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßes verantwortlich. Nicht einmal ein Null-CO2-Deutschland hätte das Desaster alleine verhindert. Es geht um etwas anders.

Eine Merkel-Regierung, die das Land seit 2005 weiter durchgreifend ökologisch modernisiert hätte, wäre ein wirksames Vorbild für den Rest der Welt gewesen. Vielleicht nicht Donald Trump, aber viele andere Staatsführungen wären ihr gefolgt. Die globale CO2-Bilanz sähe weit besser aus als heute.

"Oh Gott!" würde man dann vielleicht immer noch sagen. Aber ohne dass der fatale Gedanke mitschwingt: Sonst kann keiner mehr helfen. Sich dem nun auszuliefern, wäre fatal.

Redaktioneller Hinweis: Klimaforscher Hartmut Graßl ist Mitglied des Herausgeberrates von Klimareporter°.

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