Michael Müller. (Bild: Martin Sieber)

Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrats erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Michael Müller, als SPD-Politiker bis 2009 Parlamentarischer Staatssekretär im Umweltministerium, heute Bundesvorsitzender der Naturfreunde Deutschlands.

Klimareporter°: Herr Müller, 80 Prozent der Lebensräume in der Europäischen Union sind in einem schlechten Zustand. Dennoch erhielt der Vorschlag für das Gesetz zur Wiederherstellung der Natur am Dienstag wieder keine Mehrheit im EU-Umweltausschuss. Haben Sie Hoffnung, dass es das Gesetz durchs Europaparlament schafft?

Michael Müller: Der frühere Umweltminister Klaus Töpfer hat die unzureichende Naturschutzgesetzgebung in Deutschland als "klaffende Wunde" bezeichnet. Durch Naturschutzgesetze hat sich das inzwischen verbessert, aber das reicht bei Weitem nicht aus. Hinzu kommt die Lücke zwischen Gesetzesauftrag und Wirklichkeit.

Dabei ist die Verpflichtung, dem Naturschutz einen zentralen Stellenwert zu geben, noch gewachsen, das zeigt auch die Neubestimmung unserer geologischen Erdepoche als "Anthropozän".

In der EU sehen die Berichte über den Zustand der Natur nach wie vor schlecht aus. Gerade erst haben über 3.000 Wissenschaftler darauf hingewiesen.

Dass es trotz aller Fakten nicht einmal im Umweltausschuss des EU-Parlaments eine Mehrheit für das Naturwiederherstellungsgesetz gab, ist ein Armutszeugnis, gerade auch für die Blockierer im Ausschuss. Es passt nicht zusammen, von Nachhaltigkeit zu reden, aber einen Kern dieser Leitidee zu ignorieren.

Und es ist ein durchsichtiges Ränkespiel, wenn Kommissionspräsidentin von der Leyen das Gesetz einbringt, aber ihr Parteikollege Manfred Weber der härteste Gegenspieler ist.

Eigentlich sollten es Selbstverständlichkeiten sein, die das Gesetz fordert: Schutz der Moore, Wiederherstellung der angegriffenen Böden, Renaturierung der Flüsse, Bewahrung und Diversifizierung der Wälder.

Das alles sind auch wesentliche Voraussetzungen für Klimaschutz. Das Verhalten der Blockierer belegt, dass sie es mit dem Klimaschutz nicht ernst meinen.

Bleiben wir beim Naturschutz. Eine neue Studie kommt zum Ergebnis, dass der Anbau zur Erzeugung von Biokraftstoffen eine große Gefahr für die weltweiten Ökosysteme werden könnte. Welche Rolle sollten Agrokraftstoffe in der deutschen Nachhaltigkeitstransformation spielen?

Beim Anbau von Biokraftstoffen zeigt sich exemplarisch ein Dilemma unserer Umwelt- und Klimapolitik. Meist werden nur Einzelfragen gesehen, nicht aber die Zusammenhänge.

Dazu gehört beispielsweise die Rolle von Monokulturen, Entwaldung und Bodendegradation. Oder auch die Verdrängung weniger lukrativer Nutzungsarten, etwa der Nahrungsmittelproduktion. Und schon wird der Biokraftstoff zum Treiber von Umweltzerstörung, auch mit erheblichen sozialen Folgen.

Zur Bewertung der Umweltwirkungen muss immer die gesamte Kette gesehen werden. Und es darf auch nicht der Eindruck erweckt werden, dass alles so bleiben kann, wie es ist, und nur grün angestrichen werden muss. Wir müssen drastisch runter mit den Verbräuchen.

Biokraftstoffe brauchen klare Regelungen, die auch überprüft werden müssen. Die Bundesregierung sollte auf UN-Ebene, bei FAO und Unep, die Initiative ergreifen, um zu einer internationalen Regulierung zu kommen. Das Landwirtschaftsministerium will sich – wie die Leitung betont – ökologisch profilieren. Dann mal los.

Alle Welt redet von Wasserstoff. Die FDP möchte den Energieträger nicht nur für kritische Industriezweige, sondern auch in Autos und Heizungen verwenden. Es gibt aber bisher keinen globalen Markt für grünen Wasserstoff und ob sich die Erdgas-Infrastruktur so einfach umrüsten lässt, ist auch fraglich. Ist der Wasserstoff-Hype gerechtfertigt oder führt er nur zu Lock‑ins beim Erdgas?

Die überstürzte Ausrichtung auf eine LNG-Importindustrie war die Austreibung des Teufels mit dem Beelzebub. Kein Zufall, dass wichtige Vertreter der beteiligten Firmen auch Förderer des Fracking-Gases sind, von dem zumindest in den nächsten Jahren Deutschland abhängig sein wird.

Der Stopp der russischen Gasimporte einschließlich der dubiosen Bombenanschläge auf die beiden Nord-Stream-Leitungen in der Ostsee sowie die Ausrichtung auf neue Langstrecken-Gasimporte sind ein Beispiel für kurzfristige und kurzsichtige Interessenpolitik, bei der sich einige Wenige, hier vor allem nordamerikanische Gasanbieter, dumm und dämlich verdienen.

Jetzt werden von der Bundesregierung rund zehn Milliarden Euro für den Bau der LNG-Infrastruktur bereitgestellt, aber wie der Ausstieg aus dem Flüssigerdgas und die Umstellung bis 2043 auf Wasserstoff erfolgen soll, bleibt völlig unklar.

Die internationalen Bemühungen der Bundesregierung für den grünen Wasserstoff sind groß, aber wichtige Fragen sind nicht geklärt.

Aktivist:innen der Letzten Generation sowie Journalist:innen wurden im Auftrag der Generalstaatsanwaltschaft München abgehört. Verhältnismäßig oder total überzogen?

Die Letzte Generation darf nicht kriminalisiert werden. Auch das Bundesverfassungsgericht hat die Mängel der deutschen Klimapolitik gerügt und einen Kurswechsel gefordert.

Eine globale Erwärmung um 1,5 Grad Celsius ist nicht mehr zu verhindern, die Welt ist derzeit sogar auf einem 3,5‑Grad-Pfad. Die negativen Synergien dieser Entwicklung sind nicht absehbar.

Vor diesem Hintergrund die Letzte Generation zu kriminalisieren, verkennt den Ernst der Lage und ist schlicht falsch. Doch vor allem bayerische Behörden werden angestachelt von den neuen McCarthys.

Deshalb: nein zur Kriminalisierung der Klimaaktivisten. Die Menschheit bekommt keine zweite Chance, sie muss heute handeln.

Die Methoden der "Klimakleber" können und sollten hinterfragt werden, denn Klimaschutz wird nur möglich, wenn der gesellschaftliche Zusammenhalt bewahrt wird und sozial schwächere Schichten nicht übermäßig belastet werden.

Dafür brauchen wir einen ernsthaften Diskurs und keine neue Polarisierung.

Und was war Ihre Überraschung der Woche?

Ich bedauere sehr, dass es keine öffentliche Debatte über den offenkundigen Bedeutungsverlust des Bundesumweltministeriums gibt. Die ökologische Frage ist ein zentrales Thema unserer Zeit, aber das Ministerium wurde geschwächt.

Mir geht das nicht in den Kopf. Mehr denn je zeigt sich, dass das Umweltministerium zum Nachhaltigkeitsministerium hätte aufgewertet werden müssen. Es ist traurig.

Eine ganz andere Überraschung war für mich in dieser Woche, dass ich zum ersten Mal seit fast zwei Jahren keine Verspätung hatte bei einer mehr als dreistündigen Fahrt mit der Deutschen Bahn.

Fragen: David Zauner