Wo Industrien entstehen, hängt vor allem von der Verfügbarkeit billiger Energie ab. Der Begründer der Volkswirtschaftslehre, Adam Smith, schrieb schon im Jahr 1776: "Der Preis von Energie hat einen so großen Einfluss, dass sich die Industrie in ganz Großbritannien hauptsächlich auf die Kohleregionen beschränkt hat, da andere Teile des Landes nicht so billig arbeiten können."
Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt eine Studie aus dem Jahr 2021, die das Wachstum von Städten vor und nach dem Beginn der Industrialisierung untersucht hat: "Vor 1750 gab es keinen Zusammenhang zwischen der Entfernung zu den Kohlerevieren und dem Wachstum; nach 1750 wuchsen die Städte, die näher an den Kohlerevieren lagen, wesentlich schneller als die weiter entfernten."
Oder anders: Das Ruhrgebiet hat so viel Industrie, weil es dort Kohle gibt.
Doch Kohle ist der Energieträger der Vergangenheit. In der Zukunft sollen immer mehr Industriezweige wie Stahl oder Chemie Wasserstoff nutzen, der mithilfe von Grünstrom hergestellt wurde. Aus Sicht alter Industriestandorte hat Wasserstoff aber einen entscheidenden Nachteil: den aufwendigen Transport.
Wasserstoff (H2) hat zwar eine sehr hohe Energiedichte im Vergleich zu seinem Gewicht, aber nicht zu seinem Volumen. Um die gleiche Energiemenge wie auf einem Tankschiff für Flüssigerdgas (LNG) zu transportieren, braucht man zweieinhalb solcher Schiffe.
Hinzu kommt, dass Wasserstoff auf minus 253 Grad gekühlt werden muss, um ihn zu verflüssigen, nicht nur auf minus 162 Grad wie bei Flüssigerdgas. Beide Eigenschaften des Wasserstoffs führen zu hohen Kosten.
Ähnlich sieht es bei Wasserstoffderivaten wie Ammoniak oder synthetischen Kraftstoffen aus, wenn diese am Zielort wieder in Wasserstoff umgewandelt werden. Durch die vielen Umwandlungen wird der Wasserstoff teuer.
Michael Liebreich, Gründer der Denkfabrik Bloomberg New Energy Finance (Bnef) in London, schreibt daher: "Die einzige Methode, Wasserstoff wirtschaftlich zu transportieren, ist als Gas per Pipeline."
Wasserstoff-Importe aus Übersee zu kostspielig
Aus europäischer Sicht bedeutet das: Neben der Eigenproduktion sind lediglich Importe aus Nordafrika, der Ukraine oder der Türkei realistisch. So sieht es auch die aktuelle Dena-Leitstudie der Deutschen Energieagentur.
Die – auch von der deutschen Bundesregierung – angedachten Wasserstoffimporte aus Kanada oder Namibia werden hingegen zu teuer sein.
Das zeigt auch eine österreichische Studie, die Importe aus Chile oder den arabischen Emiraten mit solchen aus Marokko verglichen hat: Wegen der Transport- und Umwandlungskosten ist der Wasserstoff aus Marokko halb so teuer wie der von weiter weg.
Die Industrie hat aber noch eine andere Option: Sie kann ihre Produktion in Länder verlagern, in denen es Sonne und Wind im Überfluss gibt und Wasserstoff günstig hergestellt werden kann. Anschließend wird statt Wasserstoff das fertige Produkt verschifft.
Eine Studie der Internationalen Organisation für erneuerbare Energien (Irena) mit dem Titel "Die Geopolitik der Energietransformation" stellt fest: "Die billigste Art, Energie zu transportieren, sind Materialien und Produkte."
Und das habe Folgen für den Standort von Industrien, denn billiger Grünstrom schaffe "einen erheblichen Wettbewerbsvorteil für Regionen mit einem Überschuss an erneuerbaren Ressourcen, um zu Standorten der grünen Industrialisierung zu werden".
Dieser Trend lässt sich bereits beobachten. Der südkoreanische Stahlkonzern Posco will 40 Milliarden US-Dollar in Australien investieren, um dort mittels Elektrolyse Wasserstoff zu produzieren und damit dann Eisenerz zu verhütten. Australien ist dafür das ideale Land. Es verfügt nicht nur über Eisenerz, sondern auch über viel Platz für Solar- und Windkraftwerke.
Energieexperte Liebreich sieht das ähnlich: "Energieintensive Industrien werden unweigerlich in Regionen abwandern, wo saubere Energie billig ist. Magisches Denken hilft nicht gegen die Deindustrialisierung."
H2-Elektrolyse braucht bis zum Vierfachen an zusätzlichem Grünstrom
Aus Sicht der Irena-Studie ist diese Entwicklung hingegen nicht zwangsläufig: "Die Standortentscheidungen von morgen werden nicht auf einer leeren Landkarte getroffen, und sie hängen von mehr als nur billiger Energie ab. Bestehende Industriezentren und -regionen sind wahrscheinlich resistent gegen Veränderungen und zeigen eine Pfadabhängigkeit."
Die bisher geplanten Werke für grünen Stahl befänden sich denn auch meist an traditionellen Stahlstandorten. Trotzdem bleibt das Problem des Wasserstofftransports. Eine Studie des Berliner Thinktanks Agora Energiewende macht hier aber etwas Hoffnung.
"Europa verfügt über ein ausreichendes Potenzial an grünem Wasserstoff, um seinen Bedarf zu decken, muss aber zwei Herausforderungen bewältigen: die Akzeptanz und den Standort der erneuerbaren Energien, da jedes Gigawatt Elektrolyse mit ein bis vier Gigawatt zusätzlicher erneuerbarer Energie einhergehen muss", heißt es dort.
Die Deindustrialisierung Deutschlands wird folglich nicht "unweigerlich" eintreten – wenn wir sie verhindern wollen und die Erneuerbaren massiv ausbauen.