In der deutschen Gasindustrie herrscht Goldgräberstimmung. Anfang des Jahres war es noch sehr zweifelhaft, ob in Deutschland überhaupt jemals ein Hafen für Flüssigerdgas (LNG) gebaut wird. Nun überschlagen sich potenzielle Betreiber mit Bekundungen, dieser oder jener Standort könnte schon so oder so zeitig an den Start gehen, um schnell unabhängig(er) von russischem Erdgas zu werden.
Rückendeckung bekommt die Branche von der Bundesregierung: Diese möchte eines der geplanten Terminals, das in Brunsbüttel, zu 50 Prozent kofinanzieren. Ein weiteres LNG-Projekt gibt es für Stade. Zudem kündigte der Energiekonzern Uniper an, die Wiederaufnahme seiner Pläne für Wilhelmshaven zu prüfen, gegebenenfalls plant das Unternehmen nun sogar zwei Terminals.
Auch das belgische Unternehmen TES möchte ein Terminal in Wilhelmshaven errichten, ursprünglich nur für synthetisches LNG aus grünem Wasserstoff, neuerdings aber, wie TES erklärt, "übergangsweise" auch für fossiles LNG.
Aus zwei mach fünf – der Putinsche Angriffskrieg gegen die Ukraine macht in der Energiewelt einiges möglich, was zuletzt ziemlich unwahrscheinlich erschien.
Die offizielle Botschaft von Industrie und Regierung ist: Es gilt, einzuspringen und zur Unabhängigkeit Deutschlands von russischem Gas beizutragen. Und spätestens jetzt sollte doch allen klar sein, dass unser Land solche Terminals brauche, wenn die Versorgungssicherheit gewährleistet sein soll.
Die Botschaft birgt in ihrer Simplizität aber die Gefahr eines Schnellschusses. Jetzt sofort sollen Entscheidungen getroffen werden, die unsere Abhängigkeit von fossilen Energien auf Jahrzehnte zementieren könnten.
Bei so weit reichenden Weichenstellungen ist man gut beraten – trotz oder gerade wegen der dramatischen Lage – mit kühlem Kopf und auf der Basis verlässlicher Informationen zu handeln.
Vergessen wird nämlich gerne der wichtigste Punkt überhaupt: Wegen des über Jahrzehnte reichenden Gasimports über die Terminals sind die zu erwartenden Emissionen schlicht unvereinbar mit den Pariser Klimazielen.
Besonders deutlich wird das, schaut man sich den neuen Bericht des Weltklimarates zu Klimafolgen und -anpassung an. Wer dessen wissenschaftliche Erkenntnisse anerkennt, kann sich unmöglich der Illusion hingeben, es gäbe noch irgendeinen Spielraum für neue fossile Umwege.
Neue LNG-Terminals wären nur die nächste fossile Falle. Wir können sie uns schlichtweg nicht leisten. An der physikalischen Tatsache hat sich nichts geändert.
LNG-Terminals sind auf 30 Jahre Erdgasbezug ausgelegt
Diese Erkenntnis stellt in unserer Lage eine Art rote Linie dar, von der aus wir die verbleibenden Optionen skizzieren können.
Schauen wir also auf den Gasbedarf. Stand heute bekommen wir weiterhin Erdgas aus Russland durch die Ostseepipeline Nord Stream 1, über die Jamal-Pipeline sowie die Leitungen durch die Ukraine. Klar, solange das so bleibt, sind die neuen Terminals unnötig für die Versorgungssicherheit der EU.
Aber wie sieht die Situation aus, sollte der Bezug von russischem Gas komplett eingestellt werden – ein Ziel, das die EU spätestens 2027 erreichen möchte?
Sollten alle Lieferungen aus Russland wegfallen, müssten zuerst Maßnahmen her, um den Erdgasverbrauch schnellstmöglich zu senken. Die Vorschläge dazu liegen seit Jahren, teils seit Jahrzehnten auf dem Tisch: Stopp des Einbaus neuer Gasheizungen, Sanierungsoffensive in Gebäuden, Booster für den Wind- und Solarausbau und Einbau von Wärmepumpen.
Das sind nur einige Maßnahmen, die teils sofort gestartet werden könnten und innerhalb weniger Jahre erhebliche Mengen fossilen Gases einsparen würden. Auf EU- wie auf Bundesebene wird die Umsetzbarkeit dieser Vorschläge mit Hochdruck geprüft.
Braucht das Zeit? Ja. Planung und Bau von LNG-Terminals brauchen das aber auch. Der Unterschied ist: Fortschritte bei erneuerbaren Energien und Effizienz erleichtern nicht nur vorübergehend die Lage, sie helfen uns auch in der Klimakrise weiter. Diese Technologien sorgen insgesamt für bessere Zukunftschancen – ganz im Gegensatz zu neuen fossilen Projekten.
Theoretisch könnte es in der EU quasi auch sofort ohne russische Gasimporte gehen. Im nächsten Winter hieße das, den Gasverbrauch um zehn bis 15 Prozent zu reduzieren. Das wäre zwar sehr aufwändig und finanziell belastend – aber es wäre machbar, ohne dass jemand in Europa frieren muss.
Gleichzeitig liegt die Wahrscheinlichkeit, dass ein LNG-Terminal bereits im kommenden Winter in Betrieb geht, quasi bei null. Und selbst wenn das geschähe, könnte es das russische Gas nicht ersetzen. Wir müssen die Reduzierung des Verbrauchs so oder so angehen.
Daraus ergibt sich für uns eine einmalige Chance: In Sachen Klimaschutz wäre vielleicht endlich jenes Tempo erreichbar, das angesichts der Klimakatastrophe schon lange bitter nötig ist. Deutschland sollte sich dreimal überlegen, ob wir an diesem entscheidenden Punkt neue fossile Infrastruktur bauen. Die würde die Klima-Notlage nur verschärfen.
Nicht ohne Grund hat das Bundesverfassungsgericht vor einem Jahr das Klimaschutzgesetz in Teilen für verfassungswidrig erklärt: Nichthandeln heute bedeutet unweigerlich erhebliche Eingriffe in die Grundrechte von morgen. Die LNG-Pläne der Bundesregierung wenden dieses Problem gerade nicht ab, sondern verschieben es nur erneut in die Zukunft.
Ohne Zweifel werden wir zeitweise mehr Flüssigerdgas über diejenigen Terminals importieren müssen, die für Deutschland nutzbar sind – und auch bei LNG ist Russland einer der größten Exporteure. Aber zusätzliches LNG zeitweise über bestehende Infrastrukturen zu beziehen, ist etwas anderes, als mit Steuergeld brandneue Terminals mit einer Lebensdauer von mindestens 30 Jahren zu bauen.
Wasserstoff-Umrüstung ist nicht einmal vorgeschrieben
Angenommen, die Regierung möchte dennoch über eigene Terminals in Deutschland reden und hat deren Unverzichtbarkeit nachgewiesen. Dann stellt sich die Gretchenfrage: Können diese Terminals in absehbarer Zukunft für den Import von grünem Wasserstoff genutzt werden?
Klar ist: Ein LNG-Terminal ist ungeeignet, um Wasserstoff direkt oder gebunden in einem Träger wie Ammoniak aufzunehmen.
Klar ist auch: Die Realisierbarkeit einer Umrüstung ist weiterhin völlig ungeklärt. Die Terminals in Brunsbüttel und Stade werden derzeit als rein fossile Projekte geplant.
So haben die EU-Kommission und die Bundesnetzagentur zum Beispiel beschlossen, dem geplanten Terminal in Brunsbüttel bestimmte Ausnahmen von der Wettbewerbsregulierung zu gewähren. Die Ausnahme ist wichtig für das Vorhaben, weil so die Wettbewerbsfähigkeit und die Profitabilität der Anlage gesteigert werden. Sie gilt jedoch ausdrücklich nur für den Import von LNG – und das für nicht weniger als 25 Jahre.
Sascha Boden
ist Referent für Energie und Klimaschutz bei der Deutschen Umwelthilfe (DUH). Er studierte in Dublin zum Thema Politik, Medien und Gesellschaft im Kontext des Klimawandels und arbeitete als Berater in der Energiewirtschaft. Seine Schwerpunkte sind neue fossile Infrastruktur sowie LNG, Methan und Wasserstoff.
Was spricht für eine Umrüstung? Von der Bundesregierung heißt es dazu nur, die Anlage in Brunsbüttel werde "so weit wie möglich 'wasserstoffready'" gebaut.
Was das konkret bedeutet, ist weiter unklar. Insbesondere fehlt eine verbindliche Pflicht zur Wasserstoff-Umrüstung, entweder zu einem Stichtag oder nachdem eine bestimmte Menge an fossilem LNG importiert wurde.
Die Verpflichtung muss so gewählt sein, dass die deutschen Klimaziele eingehalten werden können. Solange das nicht der Fall ist, gibt es angesichts der derzeitigen Profitabilität von LNG keinen Grund anzunehmen, dass die Betreiber die Terminals so schnell wie möglich umrüsten.
Die H2-Umrüstung ist auch deshalb unwahrscheinlich, weil sich LNG-Terminals, wenn überhaupt, nur mit langfristigen Lieferverträgen rentieren. Die Beteiligung der Bundesregierung am Terminal in Brunsbüttel ist ja gerade mit dem Abschluss von Lieferverträgen verbunden, damit Deutschland unabhängiger von russischem Erdgas wird.
Genau deshalb gab es ja bisher so viele Verzögerungen. Uniper begründete die Absage seines Terminals bisher mit fehlendem Interesse am Markt.
Für Brunsbüttel stellte die EU die Auflage, zehn Prozent der Kapazität für die kurzfristige Nutzung freizuhalten. Das war möglicherweise sogar der Grund, warum der niederländische Hauptinvestor Vopak – unbeachtet von Medien und Öffentlichkeit – im vergangenen November absprang. In jedem Fall minderte die Vorgabe die Profitabilität des Vorhabens.
Deswegen ist auch ein Szenario unrealistisch, in dem LNG-Terminals quasi als reine Rückversicherung gebaut werden. Solche Großprojekte einfach nur zu bauen und dann nicht zu nutzen, ist quasi ausgeschlossen. Einzige Ausnahme wäre ein Szenario, in dem der Staat ein Terminal zu 100 Prozent als "Backup" finanziert. Davon spricht jedoch derzeit niemand.
Eine Notlage nutzen, um die nächste schneller zu erreichen?
Bis der Umstieg auf Wasserstoff kommt, stellt auch die weltweite Verfügbarkeit von LNG ein Problem dar. Der globale Flüssigerdgas-Markt war schon vor Ausbruch des Krieges stark umkämpft – jetzt ist er es umso mehr.
Asien hat über langlaufende Verträge einen Großteil der verfügbaren Kapazitäten gebucht. Was kurzfristig verfügbar ist, kann nur zu sehr hohen Preisen eingekauft werden. Auch neue Langfristverträge für den deutschen Bedarf dürften einiges kosten.
Wieso soll man diese Kosten noch steigern, indem man eine eigene LNG-Infrastruktur samt notwendigem Netzanschluss und Netzausbau schafft – wo doch bereits bestehende Terminals in Europa genutzt werden können?
Die Kosten des Terminal-Booms für Gaskunden und Steuerzahlerinnen dürften sich insgesamt auf einen Milliardenbeitrag belaufen, gerade auch, weil die Regierung das Brunsbütteler Terminal so massiv aus eigener Tasche finanzieren möchte. Je länger wir am fossilen Gas hängen, desto größer wird das Loch, das in die Kassen von Bevölkerung und Staat gerissen wird.
Letztlich müssen sich die Wasserstoff-Versprechen von Industrie und Regierung in den Genehmigungsunterlagen der Terminals wiederfinden. Solange sie nicht schwarz auf weiß festgeschrieben sind, muss man davon ausgehen, dass derzeit versucht wird, rein fossile LNG-Terminals durchzuboxen – unter Ausnutzung einer Notsituation, die die Terminals selbst in den nächsten Jahren gar nicht lindern können.
Sobald sie fertig sind, wird sich schon eine Ausrede finden, wieso man jetzt doch länger LNG importieren muss. Klimaschutz? Nicht so wichtig.
Alles in allem: Deutsche LNG-Terminals können frühestens in zwei, eher in vier bis sechs Jahren eine zusätzliche Option für den Erdgas-Import sein. Das wären ein paar zusätzliche Importwege für einen Energieträger, den wir bereits über andere Terminals beziehen können – und von dem wir wegen der Klimakatastrophe schnellstens wegmüssen.
Der Preis für die LNG-Träume wäre jedoch hoch: enorme Kosten, ein fossiler Lock-in-Effekt und das verheerende Signal, man könne klimawissenschaftliche Fakten komplett ignorieren und 2022 noch neue fossile Infrastruktur bauen, um munter für weitere Jahrzehnte Erdgas zu verbrennen.
Der Schlussfolgerung muss deswegen sein: Fossile LNG-Terminals sind nach wie vor ein "No-Go". Sie würden uns nur vom Regen in die Traufe bringen, von einer fossilen Falle in die nächste. Das müssen wir trotz der angespannten Weltlage – oder gerade deswegen – unbedingt verhindern.
Wir brauchen keinen Schritt in die falsche, sondern einen Sprint in die richtige Richtung. Schon vor dem Krieg galt: Unsere fossile Abhängigkeit ist unvereinbar mit Klimaschutz. Jetzt haben wir die einmalige Chance, ein ganz großes Stück von dieser Abhängigkeit wegzukommen und das Ruder in Sachen Klimaschutz noch rumzureißen. Wir sollten sie unbedingt nutzen.