Eine Person in grauem Schutzanzug hängt an einem Seil, hinter ihr der blaue Greifarm einer Baumaschine.
Räumung in Lützerath: Mensch gegen Maschine. (Foto: Barbara Schnell)

Es ist 7:40 Uhr, als am Mittwochmorgen der Anruf aus dem Camp in Lützerath kommt: "Es geht heute los. Sie werden nicht nur den Zaun bauen, sondern auch mit der Räumung beginnen und Bäume fällen. Zeug:innen erwünscht."

Tatsächlich rücken in diesem Moment mehrere Hundertschaften der Polizei im strömenden Regen von allen Seiten auf das besetzte Dorf am Tagebau Garzweiler zu, um mit der Räumung der Klimaaktivist:innen zu beginnen. An manchen Stellen werden sie mit christlichen Gesängen empfangen – an anderen mit fliegenden Steinen und einem Molotowcocktail.

Dieser heftige Zusammenstoß wird an diesem Tag die Ausnahme bleiben – überhaupt, so ein Kontaktbeamter, der seit Monaten vor Ort tätig ist, seien solche Szenen "nicht prägend" für das, was in zweieinhalb Jahren in Lützerath gewachsen ist. Dann beginnt ein beharrliches, überraschend stilles Ringen um die Bodenkontrolle, die die Polizei überraschend schnell an sich bringt.

Es ist der Tag, den so viele zu verhindern versucht haben, mit wissenschaftlichen Fakten, mit leidenschaftlichen Appellen, mit letzten Eilanträgen vor Gericht. Doch auf dem Rechtsweg war Lützerath nicht zu retten, zu wasserdicht war die Allgemeinverfügung, unterzeichnet von Landrat Stephan Pusch, der am Dienstag bei einer Bürger:innen-Fragestunde zu Lützerath sein Demokratieverständnis so erklärt hatte: "Als Volksvertreter werden wir gewählt, und dann entscheiden wir, was richtig und falsch ist."

Hatte es an diesem Dienstag noch viele Sitzblockaden gegeben, um den Vormarsch der Polizei zu verlangsamen, so konzentrieren sich die Aktivist:innen jetzt darauf, die Strukturen zu besetzen, die die Räumkommandos teils mit verblüffender Schlichtheit, teils als ausgeklügelte Seil-Labyrinthe herausfordern.

Eine Reihe von Dreibein-Strukturen, auf denen Klimaaktivisten sitzen.
Knifflige Tripod-Reihe in Lützerath. (Foto: Barbara Schnell)

Gegen Mittag kommt die Räumung einer Reihe miteinander verbundener Tri- und Duopods auf der Straße an der Tagebaukante ins Stocken. Eins der Seile, an denen die ganze Konstruktion hängt, droht zu reißen, und die sogenannten Höhenretter wollen versuchen, es zu entlasten und an einer Hebebühne zu befestigen. Gemeinsam mit den Beamten schreitet ein Polizeikontakt der Besetzer:innen die Reihe der Strukturen ab, um die darin baumelnden Aktivist:innen darauf vorzubereiten, dass es beim Durchtrennen des Seils einen Ruck geben kann.

Anspannung liegt in der Luft – immerhin regnet es in dieser brenzligen Situation nicht mehr, und der Wind hat sogar die Sonne hervorgeholt. Alles geht gut, und die Höhenretter können mit der Räumung beginnen. Diese scheint jetzt unaufhaltsam, und dennoch ist die Stimmung in der Höhe gut.

"Ins Ahrtal kam tagelang nicht ein Polizist"

"Ich finde es krass, was hier trotz der Übermacht für eine kämpferische Stimmung herrscht", sagt ein erfahrener Aktivist, der sich an der bereits geräumten Mahnwache Lützerath für eine kurze Pause niedergelassen hat und sich Momo nennt. "Ich bin begeistert von der Entschlossenheit, mit der eine so junge Bewegung hier agiert, von ihrer Unerschöpfbarkeit. Es ist klar, dass diese Räumung nicht spurlos an den Menschen vorübergeht, aber ihre Entschlossenheit und Konsequenz sind beeindruckend."

Der Aktivist spannt den Bogen weiter: "Am Beginn der Besetzung von Lützerath haben alle gesagt, so etwas wie im Hambi kriegt ihr nie wieder hin. Aber wir haben es geschafft, hier ein Projekt zu organisieren, das auch große internationale Solidarität erfährt, und damit auch die Radikalität der Zivilgesellschaft einzufordern, die uns hier massiv unterstützt."

Zwei behelmte Polizisten fahren einen Aktivisten mit einem Bollerwagen weg.
Räumung mit dem Bollerwagen. (Foto: Barbara Schnell)

Ein Anwohner, der es trotz der jetzt schier unüberwindlichen Zugangsbeschränkungen ins Camp geschafft hat, beobachtet den Aufwand an Polizei und Räumungsmaterial mit unverhohlener Wut: "Das muss man sich anschauen, was sie hier aufgefahren haben. Ins Ahrtal haben sie eine ganze Woche lang nicht einen Polizisten hingekriegt. Und wie kann es möglich sein, dass Islamisten unbemerkt Vorbereitungen treffen können, um das halbe Ruhrgebiet umzubringen, aber hier zerren sie Klimaschützer aus Bauernhöfen?"

Abseits der Punkte, an denen geräumt wird, erklingen unter blauem Himmel die gewohnten Camp-Geräusche: Gesang, Musik, Lachen – und immer noch Hämmern. Im Hüttendorf haben Aktivist:innen sich ein Liederheft ausgedruckt. Viele von ihnen sind so jung, dass sie Rio Reisers Texte erst hier im Camp kennengelernt haben. Mit großer Fröhlichkeit schmettern sie "Das ist unser Haus!" zur Begleitung einer Gitarre vom Blatt.

Unterdessen sind überall kleinere Polizeitrupps unterwegs. Sie entfernen unten Planen oder Türen von den Strukturen, um nachzusehen, was die Höhenretter erwarten wird. Während eine sachliche Grundstimmung herrscht, fallen immer wieder Beamte durch verächtliche Bemerkungen auf. "Wie geil, dass endlich die Maschinen kommen. Die letzten Tage war das ja langweilig hier", sagt einer über dieselben Geräte, über die sein Einsatzleiter Willi Sauer gerade noch bei der Pressekonferenz gesagt hatte, er sei "erschrocken", was für Material RWE für die Zerstörung des Ortes zusammengetragen habe.

Wände, die fliegen gelernt haben

Die Sonne beginnt unterzugehen, und es wird kühler in Lützerath. Die ersten Aktivist:innen hüllen sich in golden glitzernde Rettungsdecken, um besser gegen die Nacht gewappnet zu sein. Die Polizei hat die Küfa, die Küche für alle, geräumt. Die Holzhalle gegenüber, in der Lützerath genau einen Monat zuvor seinen auch ohne Strom überraschend gemütlichen Wintermarkt veranstaltet hat, hat sich in ein ganz besonderes Konstrukt verwandelt.

In der Holzhalle in Lützerath wurden die Wände waagerecht unter dem Dach aufgehängt, darauf sitzen protestierende Menschen.
Besetzte Holzhalle in Lützerath. (Foto: Barbara Schnell)

Eine der Scheunen auf dem Gelände hatte Wände aus großen Schiebe-Elementen, die von großen Menschengruppen in die Halle getragen wurden und dort "fliegen gelernt haben", so eine Aktivistin. In gut vier Metern Höhe schweben sie jetzt als Plattformen unter der Hallendecke. Die Menschen, die darauf sitzen, warten entspannt darauf, wie die Polizei diese Aufgabe lösen wird.

Dass in den letzten Tagen noch ganze Bauelemente in fantasievolle Hindernisse verwandelt wurden, beeindruckt auch Eva Töller. Gemeinsam mit Michael Zobel hat die Aachenerin mit ihren Waldspaziergängen zur Rettung des Hambacher Waldes beigetragen; ein letzter Dorfspaziergang führte vergangenes Wochenende fünftausend Menschen nach Lützerath.

Sie finde es "unglaublich, wie sich das Dorf innerhalb von Stunden so verändert hat, dass man Straßen nicht wiedererkennt", sagt Töller. "Ich bin berührt, mich welcher Kreativität sich diese jungen Menschen dafür einsetzen, die Zerstörung dieses Ortes zu verzögern oder zu verhindern."

Auch als es dann dunkel ist, setzt die Polizei die Räumung fort. Momos Freude an der Entschlossenheit der Bewegung schlägt in Wut um. Es erstaunt ihn, mit welcher Gewalt die Polizei vorrückt und wie unvorsichtig sie dabei teilweise vorgehe. "Immer wieder machen sie Fehler. Damit hat die Polizei ihr Versprechen gebrochen, und ich muss immer öfter an Steffen Meyn denken." Der Journalist war 2018 bei der Räumung des Hambacher Waldes ums Leben gekommen.

 

Inzwischen ist Lützerath so in Scheinwerferlicht getaucht, dass man den Ort von Mönchengladbach aus am Horizont sehen kann. Gut für die Menschen, die am Ende des Feldwegs, der aus dem Camp führt, mit Pavillons einen Support-Punkt errichtet haben. Sie brauchen sich um eigenes Licht nicht zu kümmern.

Stützpunkt und Anlaufstelle ist auch zwei Kilometer weiter die Mahnwache in Holzweiler. Hier haben Bewegungsgegner in der Nacht ein Banner zerrissen und eine Kabeltrommel zerstört. Immer wieder erweckt Nordrhein-Westfalens Wirtschaftsministerin Mona Neubaur (Grüne) den Eindruck, dass der Konflikt um die Braunkohle mit dem Ende von Lützerath befriedet sein wird. Doch die Verhältnisse vor Ort sprechen eine andere Sprache.

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