Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist die Bevölkerung Europas einer zunehmenden Propaganda des Habenwollens ausgesetzt.
Erst waren die Signale leise und das Versprechen an Forderungen gekoppelt: Sei fleißig, dann kannst du dir's verbessern: Spare auf den Fernseher, ein Auto, den Wohnzimmer-Verbau, die Waschmaschine – ein Haus. Der Aufstieg, der da verheißen wurde, konnte als stets gerechter Anteil am sich stets mehrenden gesellschaftlichen Reichtum verstanden werden. Das Gehalt des Vorarbeiters übertraf den Lohn des Arbeiters, der Abteilungsleiter verdiente mehr als der Vorarbeiter, und über allen thronte der Herr Direktor. (Mehr als zwanzigmal den Lohn eines Arbeiters hat er auch nicht bekommen.) Sein Mercedes stand als stete Erinnerung für das, was man erreichen kann im Leben, auf dem Firmenparkplatz.
Dann, ab der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre, ist die straffe Kette Arbeit–Sparbuch–Konsum gelockert worden. Die Glieder waren plötzlich mobil und konnten vertauscht werden: Anna, den Kredit hamma! – so ging ein Werbespruch der österreichischen Postsparkasse. Plötzlich durften Bankkredite aktiv beworben werden. Der Konsum auf Pump bedeutete Genuss schon vor der Leistung und stürzte in den folgenden Jahren immer mehr Familien in Schulden und Abhängigkeit. Abhängigkeit ist die Daseinsform des Konsumenten schlechthin. Vom Konsum wiederum hängt die Wirtschaft ab und deren Wachstum.
Und tatsächlich ist in den Nachkriegsjahrzehnten alles gewachsen: Warenangebot und Nachfrage, die Produktivität und die Gewinne. Letztere steigen besonders hoch, wenn es gelingt, den Absatz zu steigern und den Faktor Arbeit gleichzeitig besonders billig zu halten. Die Werkbänke sind aus diesem Grund nach Asien übersiedelt. Verdient wird am Handel, wie zu Zeiten der alten Hanse.
Wer dazugehören möchte, muss kaufen
Im gleichen Maß, in dem der mitteleuropäische Arbeiter seine Bedeutung in der Produktion verliert, gewinnt er ökonomisches Gewicht in seiner Rolle als Konsument. Die Werbung investiert viel, um die Vorstellung der Menschen von Glück immer enger an den Akt des Kaufs zu binden. Der Erwerb von bestimmten Waren soll begehrt, glücklich und schön machen.
Aus dem Gebrauchswert der erworbenen Produkte allein lässt sich kaum Befriedigung gewinnen. Es stellt sich schnell heraus, dass der Energy-Drink keine Flügel verleiht und das Parfüm aus dem Supermarkt-Regal keineswegs, wie versprochen, begehrt macht. Das Glück des Habens ist auch bei den teureren Konsumgütern von kurzer Dauer, denn es wird in immer kürzeren Abständen dadurch zerstört, dass etwas Neues im Angebot auftaucht und das eben erst erworbene Ding obsolet macht. Wer weiter dazugehören möchte, muss kaufen – auch (oder gerade) wenn das Geld eigentlich nicht reicht.
Das Stakkato des Must-Have lässt ein permanentes Gefühl von Mangel entstehen. Das Verhältnis von Bedarf und Befriedigung erscheint immer öfter um den Bedarf verkürzt: Es wird gar nichts gebraucht. Der Flaneur, die Flaneurin in der Shopping-Mall setzt sich dem Bombardement des Angebots aus, ohne Bedarf zu haben. Der Akt des Kaufens erzeugt einen kleinen Schauer, aber die Freude über den Besitz bleibt flüchtig.
Nur so lässt sich verstehen, dass etwa der große, organisierte Betrug am Konsumenten, die "geplante Obsoleszenz" kaum Widerstand bei der breiten Masse auslöst. Im Gegenteil: Das Gros der Konsumenten nimmt dankbar hin, dass die Dinge, deren Erwerb allein Lust bereitet, schnell wieder kaputtgehen und sich so eine neue Gelegenheit zum Einkaufsakt bietet. Man entgeht derart dem Skandal der Verschwendung: Es muss kein funktionierendes Ding weggeworfen werden. In diesem Zusammenhang ist auch jede technische Neuerung ein Geschenk des Himmels, eine rationale Bemäntelung des Verschwendungsaktes.
Die Werbung arbeitet seit Jahrzehnten an der Erzeugung eines stets anschwellenden Bedürfnisstroms. Gleichzeitig ist der überwiegende Teil der Bevölkerung vollkommen von jeder Möglichkeit abgeschnitten, für die Befriedigung wesentlicher Bedürfnisse selbst zu sorgen. Die meisten jüngeren Menschen sind nicht mehr in der Lage, aus Basiszutaten ein genießbares Essen zuzubereiten. Damit stünde in ökonomischen Notzeiten nicht einmal mehr kreative Sparsamkeit als Ausweg offen. Stattdessen muss dann verzichtet werden. Eine Demütigung ohne Ausgleich.
Einfache Wahrheiten werden wieder sichtbar
Lange ist diese Entwicklung nur von vereinzelten Kulturpessimisten als defizitär empfunden worden. Die hilflose Masse der Konsumenten hat weiter gekauft – und weggeworfen. Auch als die Arbeitseinkommen in Europa nicht mehr gewachsen sind. Eine Zeitlang konnten die Erzeuger der Waren im Preis so weit gesenkt werden, dass es nicht gleich zum Konsumverzicht kommen musste. Bei Textilien etwa hat man die Qualität der Ware und die Löhne der Textilarbeiterinnen so weit gedrückt, dass die Anzahl der Stücke, die verkauft wurden, sogar gestiegen ist, obwohl der von jedem Konsumenten, jeder Konsumentin in Mode investierte Betrag gleich bleiben konnte. Die Leute mussten für immer mehr nicht mehr ausgeben.
Robert Gordon
ist Journalist beim Österreichischen Rundfunk (ORF). Der studierte Theaterwissenschaftler ist seit 1995 in der Schauplatz-Redaktion tätig. Er erhielt mehrere österreichische Journalistenpreise.
Inzwischen haben die Reallöhne aber so stark an Kaufkraft verloren, dass sich das Versprechen vom ständig wachsenden Konsum für eine immer größere Bevölkerungsgruppe nicht mehr aufrechterhalten lässt. Es wird nicht mehr mehr. Und dieser Umstand kann von vielen nur als Verlust empfunden werden. Nur eine schmale Schicht wird noch immer reicher – und das in unangemessen kurzer Zeit.
Das über Jahrzehnte aufgebaute Vertrauen, dass alle von den Illusionsmaschinen erzeugten Bedürfnisse auch tatsächlich befriedigt werden können, ist zerstört. Die Wahrheit, dass vieles unerreichbar bleiben wird, was man wünscht, kommt aus der Geschichte zurück in die Gegenwart. Das war vielen unbekannt und frustriert daher.
Natürlich waren die unbegrenzten Möglichkeiten für die meisten Menschen auch in den besten Zeiten nur eine Illusion, aber jetzt ist auch der Glaube weg. Abgelöst von der Ahnung, dass es ab nun nicht mehr besser werden und folglich nur noch bergab gehen könne. Und plötzlich ist die Gefühlswelt genauso defizitär wie der Kontostand. Selbst bei denen, die faktisch noch gar nicht von Verlusten betroffen sind. Die Angst vor dem Abstieg ist wohl sogar bei denen am stärksten, die noch gar nichts verloren haben.
Hass auf die Besserwisser
Es herrscht das Gefühl, dass das Rad zum Stillstand gekommen sei. Das ewige Bedürfnis und das ewige Wachstum. Und die, die an beides geglaubt haben, fühlen sich verraten und betrogen. Ihnen bleiben die Schulden und sie hassen alle, von denen sie beschämt werden. Die, die schon früh gewarnt haben und deren Warnungen sie in den Wind geschlagen haben. Die, die ihnen vermeintlich keinen Spaß gönnen, die Gutmenschen, die sie jetzt auch noch zum Teilen zwingen wollen, mit den tatsächlich Bedürftigen, den wahren Opfern, die den Betrogenen auch noch das letzte streitig machen, was ihnen geblieben ist: ihren Status als Opfer.
Die Fremden werden von den moralisch Überlegenen mit Zuwendung und Verständnis überhäuft, während man selbst von den Besserwissern nur belehrt und verachtet wird. Von denen, die einem ununterbrochen ein schlechtes Gewissen machen, wenn man sich einmal Auszeit nehmen möchte vom Nachdenken über den Zustand der Welt. Dann ist man dankbar, wenn einer kommt und sagt: Der Klimawandel ist eine Fälschung und der weiße Mann die Krone der Schöpfung.
Aber der Spaß ist ja wirklich aus. Die, an deren Lippen die dankbar Vergnügungsbereiten gehangen haben, deren Botschaften sie geglaubt haben und deren Politik sie auf den Leim gegangen sind, können zunehmend auf sie verzichten. Als Arbeitskräfte sowieso, aber auch als Konsumenten. Es gibt schließlich andere auf der Welt, denen man etwas verkaufen kann. Und die sind am Ende noch weniger anspruchsvoll, die Margen sind besser und bald haben die auch mehr Geld.
Es gibt keinen unwürdigeren Zustand, als nicht mehr gebraucht zu werden. Was tut man in so einer Not? Man schaut sich um nach Leuten, die vermeintlich noch unnötiger sind, als man sich selber gerade fühlt. Solche, die keiner gerufen hat. So wie damals vor achtzig, neunzig Jahren. Als sich ein Heer von Arbeitslosen umgeschaut hat nach Sündenböcken und sie schließlich in den Zuwanderern gefunden hat.
Geschichte wiederholt sich nicht – und wenn, dann als Farce –, aber es scheint Situationen zu geben, die ähnliche politische Fehlentwicklungen hervorbringen. Bürger, die nichts kennen als nach unten zu treten, egal was ihnen die oben zumuten. Momentan befinden sie sich in einer Phase rasender Vermehrung.