Hartmut Graßl. (Bild: Christoph Mischke/​VDW)

Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrates erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Professor Hartmut Graßl, Physiker und Meteorologe.

Klimareporter°: Herr Graßl, an der laufenden Klimakonferenz COP 28 in Dubai sollen bis zu 100.000 Menschen teilnehmen, darunter auch mehrere tausend fossile Lobbyisten. Welche Rolle spielen da noch die Klimaforschung und die Wissenschaftsgemeinde? Fühlen Sie sich nicht an den Rand gedrängt?

Harmut Graßl: Die raschen Klimaänderungen durch den Menschen sind das globale Problem. Deshalb ist es verständlich, wenn sehr viele meinen, bei der COP 28 anwesend sein zu müssen.

Doch die meisten sind nur Staffage und ohne persönlichen Einfluss auf die Beschlüsse der Konferenz. Deren Entscheidungen entsprechen den globalen Machtverhältnissen, zwar zum Teil auf der Basis wissenschaftlicher Befunde, allen voran der IPCC-Berichte, aber doch stärker den kurzfristigen Interessen einiger bedeutender Länder oder Ländergruppen folgend.

Die Menschheit befindet sich in unterschiedlichen Entwicklungszuständen, auch weil die Regierungsform das Innovationsniveau bestimmt. Hochentwickelt, weil innovativer als der Durchschnitt, sind vor allem die Demokratien. Zurzeit steigen einige Industrieländer, die auch in der Klimaforschung führend sind, bereits aus den fossilen Brennstoffen aus. Die EU senkte ihren CO2-Ausstoß 2022 um über sieben Prozent.

Währenddessen meinen die meisten weniger entwickelten Länder noch immer, sich nur mit subventionierten fossilen Brennstoffen rasch weiter entwickeln zu können, obwohl die erneuerbaren Energien gerade in den sonnenscheinreichen Regionen schon wesentlich preiswerter sind.

Da die COP 28 nach den UN-Regeln von einem Land aus Asien ausgerichtet werden sollte und die Vereinigten Arabischen Emirate eine COP aus der Portokasse bezahlen können, haben wir jetzt den Bock zum Gärtner gemacht und es wird kaum gelingen, einen Ausstiegsbeschluss zu den fossilen Brennstoffen zu bekommen.

Es bleibt nur der Klimaklub, der – auf Basis wissenschaftlicher Befunde agierend – demnächst andere mitreißt. Dann liegt bald das Emissionsmaximum hinter uns.

Eine 200-köpfige Forschungsgruppe hat diese Woche einen neuen Bericht zu den Kipppunkten des Weltklimas vorgelegt. Danach könnten fünf große Kippelemente ihren Kipppunkt schon bald überschreiten: die Eisschilde auf Grönland und der Westantarktis, die Warmwasser-Korallenriffe, die Atlantikzirkulation südlich von Grönland und bestimmte Permafrost-Regionen.

Zu diesen Kipppunkten gibt es seit Jahren Warnungen – lässt sich das Umkippen überhaupt noch verhindern?

Das Klimasystem kennt viele Rückkopplungen, die in bestimmten Parameterbereichen auch regelungstechnisch positiv sein können, sodass ein sich verstärkender und kaum beeinflussbarer Prozess abläuft, modern gesprochen ein Kipppunkt überschritten wird.

Die Stabilität des Klimas der Erde über viele Millionen Jahre beruhte auf einer sehr starken negativen Rückkopplung. Denn nach dem Stefan-Boltzmann-Gesetz steigt die Wärmeabstrahlung eines Körpers mit der vierten Potenz der absoluten Temperatur. Jede Erwärmung führt also zu verstärkter Abstrahlung in den Weltraum.

Diese negative Rückkopplung hat das Erdklima über die Jahrmillionen erstaunlich stabil gehalten, sodass die Oberflächentemperatur der Erde – soweit das für die vergangenen vielen Millionen Jahre bekannt ist – nur in einer Bandbreite von rund zehn Grad variierte.

Dabei können jedoch Zeitabschnitte mit positiven Rückkopplungen auftreten, zum Beispiel wenn Inlandeisgebiete durch den folgenden sich selbst verstärkenden Rückkopplungsmechanismus schmelzen:

Wenn der Eisschild auch in seinem höchsten inneren Teil Masse verliert oder auch nur antaut, nimmt seine Oberfläche ab und ist auch weniger Sonnenenergie-rückstreuend als Pulverschnee. Sie wird dadurch gleichzeitig – weil die Temperatur in der Atmosphäre mit der Höhe abnimmt – höheren Temperaturen ausgesetzt, wodurch die Schmelzrate noch weiter zunimmt.

Das gilt auch dann, wenn der ursprüngliche Anlass zum Schmelzen – zum Beispiel ein höherer CO2-Gehalt der Luft – durch globale Klimaschutzpolitik nicht mehr weiter steigt. Das Inlandeis schmilzt trotzdem über Jahrhunderte und Jahrtausende weiter ab. Nur eine rasche und massive Entnahme des Kohlendioxids aus der Luft könnte den Prozess dann noch stoppen.

Dieser Schmelzprozess ist im strengen physikalischen Sinne nicht irreversibel, aber angesichts der für uns Menschen wichtigen Zeitskalen von Jahren bis wenigen Jahrhunderten wird dennoch oft von Irreversibilität gesprochen.

Seit Jahren warnen Wissenschaftler vor diesem und anderen Kipppunkten bei einem Überschreiten bestimmter Erwärmungswerte. Wenn jetzt in Dubai hochkarätige Wissenschaftlergruppen ihre neuesten Befunde vorstellen, beeinflusst das die Entscheider formal nicht, denn deren Information aus der Wissenschaft ist von einem zur UN-Klimakonvention gehörenden Gremium bereits vor der COP 28 festgelegt worden. Es erhöht jedoch den Druck aus der Zivilgesellschaft auf diese und zukünftige Klimakonferenzen.

Laut dem jüngsten Bericht des Global Carbon Project steigen die fossilen Emissionen auch 2023 weiter. Befürchtet wird jetzt, dass das 1,5-Grad-Limit nicht nur knapp überzogen wird, sondern um mehrere Zehntelgrad, dass also der sogenannte Overshoot größer wird als bisher angenommen. Wie groß wird der Overshoot Ihrer Ansicht nach sein?

Sogar schon das Hauptziel des Paris-Abkommens, "deutlich unter zwei Grad" zu bleiben, ist angesichts der bisherigen Anstrengungen der Länder – auch der Länder mit bewusster Klimapolitik – gefährdet. Das Überschießen des 1,5-Grad-Ziels ist daher sehr wahrscheinlich und die Wahrscheinlichkeit für die Aktivierung von Kipppunkten sehr hoch.

Der Bericht des Global Carbon Project, eines lockeren Verbundes von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, zeigt deutlicher als bisher die Teilung der Welt in Industrie- und Schwellenländer. Während die hochindustrialisierten, demokratisch regierten Länder teilweise recht eindrucksvolle Emissionsminderungen aufweisen können, verlagert sich das Klimaproblem immer stärker in Richtung der großen Schwellenländer wie Indien und China. Deren Verantwortung sollte bei den Klimakonferenzen stärker betont werden, auch um Ermüdungserscheinungen bei den Klimaschutz-Vorreitern zu verhindern.

Seit 2020 darf Schiffsdiesel nur noch 0,5 Prozent Schwefel enthalten statt 3,5 Prozent wie zuvor. Dadurch ist der Kühlungseffekt durch Schwefelemissionen zurückgegangen. Wäre es sinnvoll, das auszugleichen, indem man im Sinne des Geoengineerings Schwefel mit Flugzeugen in der Atmosphäre ausbringt – zumindest vorübergehend?

Vor etwa zehn Jahren hat Karsten Peters, einer meiner Doktoranden, gezeigt, dass die Schiffsabgase entlang der Hauptrouten der Schiffe in den tropischen Regionen keinen bemerkbaren Einfluss auf die Helligkeit der dortigen Wasserwolken haben. Lediglich der Nordatlantik ist in anderen Studien als eine Region mit recht moderatem Einfluss auf die Wolken gefunden worden.

Ob die Aerosolteilchen vor der Änderung der Wolken die Rückstreuung von Sonnenlicht in wenig bewölkten Gebieten messbar steigern, ist zwar ein Debattenpunkt bei vielen, die Geoengineering vorschlagen, ist jedoch bisher ohne wesentlichen Befund.

Warum sollte man ein erkanntes Umweltproblem behalten, um ein anderes zu dämpfen? Man muss beide mindern!

 

Und was war Ihre Überraschung der Woche?

"Al Gore's climate watchdog spots rogue emissions" (Al Gores Klima-Wachhund spürt illegale Emissionen auf) heißt ein Artikel von Paul Voosen in der Zeitschrift Science vom 3. Dezember, in dem der Redakteur auf die manchmal grob fehlerhaften Berichte zu Treibhausgasemissionen verschiedener Länder hinweist.

In einem Bericht der Organisation Climate Trace, die vom früheren US-Vizepräsidenten Al Gore angeregt wurde, steht zum Beispiel, dass die starken Emittenten Russland und USA 1,5 Milliarden beziehungsweise 0,4 Milliarden Tonnen CO2-Äquivalent weniger angeben, als mit neuesten Satellitendaten und Methoden der künstlichen Intelligenz gefunden worden sind.

Aber auch die Vereinigten Arabischen Emirate unterschätzen ihre Emissionen sehr stark. Weltweit liegen laut Climate Trace die Emissionen um etwa fünf Prozent höher. Also sollten für die kommenden verpflichtenden Berichte die neuen Methoden eingeführt werden. Jeder Schritt in Richtung Transparenz hilft.

Fragen: Jörg Staude

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