Letzte Woche machte eine Hoffnung gebende Nachricht die Runde. Das kommt im Klimajournalismus durchaus nicht oft vor. Der gigantische Grönland-Eisschild könnte widerstandsfähiger gegenüber dem Klimawandel sein als bisher angenommen.
Selbst ein starker Temperaturanstieg, wenn nur für begrenzte Zeit, wäre für den zweitgrößten Eisschild der Welt verkraftbar.
Ganz anders sieht es auf der anderen Seite der Erdkugel aus. Eine gerade im Fachjournal Nature Climate Change erschienene Studie sieht die Stabilität des Westantarktischen Eisschildes sogar dann gefährdet, wenn das 1,5-Grad-Limit eingehalten wird.
Das Problem ist das den Eisschild umgebende Schelfeis. Selbst unter dem optimistischsten Emissionsszenario kommt es laut der Studie zu einer raschen Erwärmung des Meerwassers und damit zu einem kompletten Abschmelzen des Schelfeises.
Schelfeis ist ein auf dem Meer schwimmender Ausläufer von Gletschern und Eisschilden. Im Gegensatz zu Meereis ist es noch mit dem Landeis verbunden und stabilisiert dieses. Es bremst das Abfließen der Gletscher in den Ozean. Doch das warme Meerwasser dünnt das Schelfeis von unten aus und schwächt damit seine Stützfunktion für die Eismassen an Land.
Für die Stabilität der Antarktis ist das von enormer Bedeutung. Der Masseverlust des Antarktischen Eisschildes findet genau dort statt, wo Eis auf Ozeanwasser trifft. Die Erwärmung der Atmosphäre spielt in der Antarktis bisher eine untergeordnete Rolle. Je schneller jedoch das Landeis abfließt und in Berührung mit dem Meerwasser kommt, desto schneller schmilzt der gesamte Eisschild.
Die riesigen Wassermassen der Ozeane regieren träge auf Veränderungen in dem Energiehaushalt der Erde. Selbst wenn die globalen Treibhausgasemissionen nun im Rekordtempo sinken sollten, würde sich der Ozean noch einige Zeit weiter erwärmen.
Selbst in den "als unrealistisch ehrgeizig geltenden" Szenarien, schreiben die Autor:innen, würde es durch die anhaltende Erwärmung des Ozeans zu einem kompletten Abschmelzen des Schelfeises kommen.
Fünf Meter Meeresspiegelanstieg
In der Studie konzentriert sich das Forschungsteam um die Modelliererin Kaitlin Naughten vom British Antarctic Survey auf die Amundsensee, ein Randmeer entlang der Westantarktis. Mithilfe eines hochaufgelösten Ozeanmodells für die Region hat die Gruppe verschiedene Emissionsszenarien simuliert. Das Schelfeis der Amundsensee stabilisiert unter anderem den Pine-Island- und den Thwaites-Gletscher.
Die britische Rundfunkanstalt BBC verlieh dem Thwaites-Gletscher 2020 den Unheil verheißenden Namen "Doomsday Glacier", also Weltuntergangsgletscher oder Gletscher des Jüngsten Gerichts. Zusammen mit dem etwas kleineren Pine-Island-Gletscher ist er für die Stabilität des gesamten Eisschildes verantwortlich.
Die mögliche Ereigniskette: Wärmeres Meerwasser führt zum Abschmelzen des Schelfeises, darauf folgt das vollständige Abfließen und Schmelzen der beiden Gletscher, was wiederum den gesamten Westantarktischen Eisschild destabilisiert.
Der Kollaps des gesamten Eisschildes hätte einen Meeresspiegelanstieg von über fünf Metern zur Folge. Genug, um Megastädte wie New York oder Mumbai und ganze Landstriche in Vietnam, Bangladesch und den Niederlanden sowie auch Regionen in Norddeutschland unter Wasser zu setzen.
Die komplette Westantarktis werde nicht noch in diesem Jahrhundert abschmelzen, erklärte Ronja Reese, Glaziologin an der Northumbria-Universität in Newcastle und nicht beteiligt an der Studie. "Modellrechnungen zeigen einen Bereich von einigen Jahrhunderten bis zu Jahrtausenden."
Antarktis gibt noch viele Rätsel auf
Ob der Kipppunkt des gesamten Westantarktischen Eisschildes tatsächlich schon überschritten ist, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Die Studie bietet spannende neue Einblicke, es gibt aber – wie bei allen Studien – auch einige Einschränkungen.
Die Autor:innen berücksichtigen zum Beispiel nicht die Schelfeis-Ozean-Rückkopplung, wie der Gletscherforscher Torsten Albrecht vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung anmerkt. Durch den Schmelzvorgang verringert sich die Kontaktfläche zwischen Eis und Meer, mit unklaren Auswirkungen auf die Schmelzgeschwindigkeit.
Auch weitere Oberflächenprozesse und eine Kopplung mit einem Eisschildmodell fehlen in der Studie.
Die Antarktis gibt nach wie vor viele Rätsel auf. Sie teilt sich in drei Regionen, die jeweils sehr unterschiedlich auf den Klimawandel reagieren. Während die größere Ostantarktis immer noch in vielen Regionen Massezuwächse verzeichnet, dominiert schon seit einigen Jahren der Eisverlust auf der Antarktischen Halbinsel und in der Westantarktis.
Viele Prozesse sind noch nicht gut genug verstanden, um das Verhalten des Arktischen Eisschildes bei einem fortschreitenden Klimawandel mit großer Sicherheit vorherzusagen.
Selbst wenn der Kipppunkt des gesamten Westantarktischen Eisschilds überschritten sei, habe das jeweilige Emissionsszenario dennoch großen Einfluss auf die Geschwindigkeit, mit der die Westantarktis abschmilzt, betont Torsten Albrecht, der ebenfalls nicht an der Studie beteiligt war.
Albrecht: "Die Anpassungsfähigkeit unserer Weltgemeinschaft über viele künftige Generationen hängt sehr an der Rate, mit der der globale Meeresspiegel ansteigt."