Hartmut Graßl. (Bild: Christoph Mischke/​VDW)

Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrates erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Professor Hartmut Graßl, Physiker und Meteorologe.

Klimareporter°: Herr Graßl, am Donnerstag hat Bundesumweltministerin Lemke das Kompetenzzentrum Natürlicher Klimaschutz in Berlin eröffnet. Intakte Ökosysteme gelten als Klimaschützer. Wälder und Moore, Meere und Gewässer, Grünflächen in der Stadt und auf dem Land sollen CO2 aus der Luft binden und es langfristig speichern.

Klimawissenschaftler bezweifeln allerdings, dass diese Natursysteme als reale CO2-Senken wirken. Was kann natürlicher Klimaschutz wirklich bewirken?

Hartmut Graßl: Jede Aktion, die sowohl die biologische Vielfalt erhält als auch anthropogene Klimaänderungen dämpft, ist hochwillkommen, weil sie die beiden wichtigsten globalen Umweltprobleme gemeinsam lindert.

Das neue Kompetenzzentrum ist deshalb nicht nur eine Beratungsinstanz für diejenigen, die beispielsweise Moorschutz wollen, sondern auch für alle, die ihren Wunsch in verschiedensten Ökosystemen auch mit einem kleinen Teil der insgesamt vier Milliarden Euro vorantreiben möchten, die bis 2026 für Projekte des natürlichen Klimaschutzes ausgelobt sind.

Die Beobachtungen im globalen Kohlenstoffkreislauf in den vergangenen Jahrzehnten – bei massiver Störung vieler Land- und Meeresökosysteme – haben gezeigt, dass die Meere und die Vegetation jeweils etwa ein Viertel aller anthropogenen CO2-Emissionen aufgenommen haben. Nur etwas weniger als die Hälfte der globalen Emissionen wurde in der Atmosphäre "gestapelt" und konnte dort den Klimawandel vorantreiben.

Je naturnäher ein gestörtes Ökosystem wird, desto mehr zusätzlichen Kohlenstoff kann es langfristig speichern. Vernässung von ehemaligen Mooren, Wiederbewaldung, mehr Humusanteil in den landwirtschaftlichen Böden und mehr Grün in den Städten sind die bekannten Aktionen, um mehr Sonnenenergie für die Speicherung von Kohlenstoff zu nutzen und somit einen noch höheren Anteil der anthropogenen CO2-Emissionen in der Vegetation und den Böden festzulegen.

Das gilt aber nur, solange die Klimaänderungen einen Ökosystemtyp nicht an den Grenzbereich seiner Existenz geschoben haben, denn wenn das geschieht, kann das Ökosystem selbst zu einer CO2-Quelle werden.

Mit anderen Worten: Der Erfolg hängt entscheidend davon ab, wo welche Maßnahme zum natürlichen Klimaschutz ergriffen wird. Neue Wälder überwiegend mit Fichten in trockeneren Regionen Deutschlands anzulegen, gehört sicher nicht zu den besten Ideen, ebenso wenig die Vernässung degradierter Moore in Regionen, wo die Klimaänderungen das Wasserangebot schon stark reduziert haben.

Das neue Zentrum steht also vor einer wichtigen, aber auch schwierigen Beratungsaufgabe.

Beim diesjährigen Extremwetterkongress in Hamburg erklärten Meteorologen und andere Experten das 1,5-Grad-Ziel für faktisch gescheitert. Nur mit größten Anstrengungen sei es noch möglich, die Erderwärmung auf zwei Grad zu begrenzen. Stattdessen erwarten die Forscher für das Jahr 2100 eine Drei-Grad-Welt. Teilen Sie diese pessimistische Prognose?

Glücklicherweise wird das Wissen über die Klimaänderungen durch uns Menschen von einem globalen Gremium der Vereinten Nationen bewertet, dem Zwischenstaatlichen Ausschuss für Klimaänderungen, englisch Intergovernmental Panel on Climate Change, IPCC. In Deutschland nennen ihn die Medien meist Weltklimarat.

Der IPCC veröffentlicht im Abstand einiger Jahre Zusammenfassungen der jeweils aktuellen Erkenntnisse für Entscheidungsträger. Die seit 2021 erschienenen Bewertungen des sechsten IPCC-Berichts hatten als zentrale Aussage: Das 1,5-Grad-Ziel des Paris-Abkommens ist nicht mehr allein durch rasche Minderung der Treibhausgasemissionen bis 2050 zu erreichen, sondern nur noch durch "zusätzliche und gleichzeitige" Entnahme von CO2 aus der Atmosphäre.

Für die Regierungen ist seitdem als weitere Information aus der Wissenschaft hinzugekommen: Die Wahrscheinlichkeit hat zugenommen, dass auch bei 1,5 Grad mittlerer globaler Erwärmung Kippelemente des globalen Klimasystems zu für lange Zeit unumkehrbaren Klimaänderungen führen.

Das gilt am ehesten für die Umwandlung des Amazonas-Regenwaldes in eine Savannenlandschaft – bei nur etwa einem Fünftel Abholzung – sowie für das grönländische Inlandeis.

Aber auch besonders viele neue Wetterextreme, einschließlich neuer Hitze- und Starkniederschlagsrekorde, sind vielerorts schon zu beobachten. Klimaschutzpolitik ist also noch dringender geworden.

Kann eine überwiegend nationale Tagung in Hamburg die Aussagekraft des IPCC erreichen? Sicher nicht, aber die Stellungnahmen der Kollegen zeigen, dass wegen des bisher recht laschen Klimaschutzes immer drastischere Klimaschutzmaßnahmen notwendig sind.

Auch wenn in den nächsten Jahrzehnten die 1,5 Grad Erwärmung überschritten werden, muss die Klimapolitik die CO2-Entnahme aus der Atmosphäre weiter vorantreiben, um dann doch noch verzögert die 1,5 Grad zu erreichen.

Als klimafreundlich gilt künftig die Kreislaufwirtschaft. Laut einer neuen Studie des Thinktanks Agora Industrie könnte eine ausgebaute "Circular Economy" für Stahl, Zement und Kunststoffe die Kosten für den Übergang zur Klimaneutralität nahezu halbieren. Zudem könnte bis 2045 ein Viertel der sonst anfallenden CO2-Emissionen eingespart werden. Welchen Stellenwert räumen Sie der Kreislaufwirtschaft beim Klimaschutz ein?

Das "Heranrobben" an eine Kreislaufwirtschaft geht sehr zäh voran – wie auch andere gewünschte Veränderungen, die von vielen Beteiligten akzeptiert und für gut befunden werden. Der Grund: Die Kreislaufwirtschaft hat die globale Rohstoffbranche zum Gegner.

Ein Aspekt, den ich dabei für bedeutend halte, ist, dass sich bei zunehmender Wiederverwertung von Rohstoffen die Wahrscheinlichkeit bewaffneter Konflikte vermindert.

Denn auch ein 100-prozentiger Wechsel zu erneuerbaren Energien erfordert die Nutzung fast aller prinzipiell nicht erneuerbaren Metalle sowie anderer nichtmetallischer Elemente. Deren Wiederverwertung steckt allerdings noch in den Kinderschuhen.

Ohne Kreislaufwirtschaft könnten wir wieder in Rohstoffkriege wie die für das Erdöl auch bei den Metallen hineingleiten.

Ich wünsche mir neben den auf Klimaneutralität zielenden Maßnahmen eine gleichzeitige politische Anstrengung für Wiederverwertung, die als Nebeneffekt sogar weitere Treibhausgasemissionen einsparen hilft.

Und was war Ihre Überraschung der Woche?

Das am Mittwoch vom Bundeskabinett verabschiedete Klimaschutzprogramm will glücklicherweise das bis 2021 praktizierte Nachhinken gegenüber dem von Deutschland ratifizierten Paris-Abkommen größtenteils beenden.

Wenn das Klimaprogramm voll erfüllt wird, bleibt im Jahr 2030 noch eine CO2-Einsparlücke von 200 Millionen Tonnen. Mich stört aber nicht so sehr diese Lücke, sondern das prominente Festhalten an den E‑Fuels im Verkehrssektor in dem vom Klima- und Wirtschaftsministerium veröffentlichten Programm.

Warum hält Deutschland entgegen den physikalischen Randbedingungen an diesen prinzipiell sehr teuren Kraftstoffen fest? Sie werden mithilfe von Ökostrom aus Wasser und Kohlendioxid erzeugt. Dazu wird zuerst durch Elektrolyse Wasserstoff aus Wasser gewonnen. Der Wasserstoff reagiert anschließend mit CO2 unter entsprechenden Druck- und Temperaturbedingungen zu einer Flüssigkeit, die ähnliche Eigenschaften wie Benzin, Diesel und Kerosin besitzt und in herkömmlichen Verbrennungsmotoren verbrannt werden kann.

Die Erzeugung von Wasserstoff und damit auch der E‑Fuels genannten Kraftstoffe ist extrem energieintensiv und benötigt daher große Mengen an Strom. Während ein Elektroauto mit 15 Kilowattstunden Strom etwa 100 Kilometer weit fährt, kommt das Brennstoffzellenauto damit nur etwa 50 Kilometer voran. Das Verbrennerauto schafft mit den 15 Kilowattstunden sogar nur 15 Kilometer.

Für E-Fuels bleibt also auf mittelfristige Sicht nur das Mittel- und Langstreckenflugzeug als wesentlicher Abnehmer. Wegen dieser physikalischen Randbedingungen wird der dadurch hoch bleibende Preis die E-Fuels auf eine winzige Nische für Liebhaber beschränken.

Fragen: Jörg Staude

 

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