Hartmut Graßl. (Bild: Christoph Mischke/​VDW)

Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrates erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Professor Hartmut Graßl, Physiker und Meteorologe.

Klimareporter°: Herr Graßl, erstmals lag die globale Erwärmung zwölf Monate lang um 1,5 Grad über dem Wert aus vorindustrieller Zeit, hat der EU-Klimadienst Copernicus jetzt mitgeteilt. Welche Bedeutung hat die 1,5‑Grad-Grenze überhaupt für das Klima?

Hartmut Graßl: Die öffentliche Debatte zu den anthropogenen Klimaänderungen konzentriert sich auf die mittlere globale Erwärmung der Luft um 1,5 Grad Celsius in zwei Metern Höhe über Grund, während das völkerrechtlich bindende Paris-Abkommen als zentrales Ziel für 2100 eine Erwärmung von "wesentlich unter zwei Grad" im Vergleich zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fordert und nur davon spricht, dass versucht werden soll, die 1,5 Grad einzuhalten.

Der "Weltklimarat" IPCC zeigte 2019 in seinem Sonderbericht zur Bedeutung der Erwärmung um 1,5 Grad – er war von der Pariser Klimakonferenz gewünscht worden –, dass schon damals über den Landoberflächen der Wert von 1,5 Grad überschritten war, während der globale Mittelwert wegen der sich langsamer erwärmenden Ozeanoberflächen erst 1,0 Grad erreicht hatte.

Die Werte "wesentlich unter zwei Grad" und 1,5 Grad sind politisch festgesetzt beziehungsweise als erstrebenswert bezeichnet worden. Sie liegen in der Nähe der höchsten Temperatur während der vorletzten wärmeren Klimaphase vor etwa 125.000 Jahren. Für unsere Spezies, den Homo sapiens, war das der höchste jemals vor der Industrialisierung aufgetretene Wert. Er ist jetzt erreicht oder sogar schon überschritten worden.

Durch die in den letzten Jahren Fahrt aufnehmende Debatte über Kippelemente im Klimasystem ist allerdings die Bedeutung des niedrigeren 1,5-Grad-Limits im Sinne einer Risikominimierung wichtiger geworden.

Eine jüngst erschienene Studie warnt vor einem möglichen Zusammenbruch der Atlantischen Umwälzzirkulation. Wie ernst müssen wir das nehmen?

Die Arbeit zur Umwälzzirkulation im Atlantik in der Zeitschrift Science Advances ist eine reine Modellstudie, die bei einem über Jahrhunderte angenommenen hohen Eintrag von Süßwasser in den Nordatlantik – zum Beispiel durch das Abschmelzen des Grönlandischen Eisschildes –, die 80-mal höher ist als die zurzeit beobachtete, erstmals einen Kipppunkt simuliert.

Wie die Autoren selbst feststellen, ist damit in einem räumlich höher auflösenden Modell und bei mehr – und möglicherweise dämpfenden – Rückkopplungen als in den bisherigen Modellstudien ein regionales Kippelement gefunden worden, im Volksmund meist als Abriss des Golfstroms bezeichnet.

Dieser Schritt vorwärts in unserem Wissen führt sofort zur Frage: Wie nahe ist dieses Ereignis, das uns schon vor zwanzig Jahren in völlig übertriebener und Wissenschaft negierender Form im Kino vorgeführt wurde? Ohne weitere Studien dazu kann das niemand sagen.

Mehr als sechs Milliarden Euro an EU-Subventionen gehen jährlich an deutsche Landwirte. Der Großteil dieser Gelder wird ohne Rücksicht darauf verteilt, ob die Betriebe zur biologischen Vielfalt, zur Förderung der Bodenfruchtbarkeit, zum Gewässerschutz und zur Treibhausgas-Einsparung beitragen. Kann die Landwirtschaft überhaupt klimaneutral wirtschaften?

Die sogenannte konventionelle Landwirtschaft trägt weltweit ganz wesentlich zum Verlust der biologischen Vielfalt bei. Dagegen fristet ökologisch orientierte Landwirtschaft weiterhin ein Nischendasein, denn die Umweltschäden durch die konventionelle Landwirtschaft werden von den niedrigen und die ökologische Wahrheit keineswegs ausdrückenden Lebensmittelpreisen nicht bezahlt.

Zu einem kleinen Teil werden sie der Allgemeinheit durch höhere Steuern aufgebürdet, der große Rest wird eher schulterzuckend als sich immer weiter auftürmende Umweltschädigung hingenommen.

Erst wenn diese Ungerechtigkeit im Wesentlichen beseitigt wird, zum Beispiel durch die Honorierung des Bodenschutzes der ökologisch orientierten Landwirtschaft oder durch einen hohen Kohlendioxidpreis, kann auch der Verlust biologischer Vielfalt erfolgreich bekämpft werden.

Da die Landwirtschaft, einschließlich der ökologisch orientierten, nie ganz treibhausgasfrei wirtschaften kann, kommen auf uns alle die Kosten für die Maßnahmen zur Entnahme von Kohlendioxid aus der Atmosphäre zu, beispielsweise zur weiteren Stärkung der CO2-Senken wie in Waldböden oder speziell in Mooren.

Und was war Ihre Überraschung der Woche?

Das war für mich die Studie zur teilweisen Transformation des Amazonaswaldes in eine Savannen-Region, veröffentlicht in Nature. Die umfassende Untersuchung zeigt, dass bei weiterer Abholzung und ohne stringente Klimaschutzpolitik aus einem regionalen Kipppunkt eine globale zusätzliche Klimaänderung entstehen könnte, die von uns fast nicht mehr zu beeinflussen wäre.

Die Studie zeigt aber auch: Bei aller Dramatik der jetzigen Ökosystem- und Klimaentwicklung im Amazonasgebiet gibt es – neben der Minderung der Treibhausgasemissionen – vergleichsweise einfache lokale Maßnahmen, um diesen größten tropischen Wald unseres Planeten ausreichend widerstandsfähig gegenüber typischen regionalen Klimaschwankungen zu machen.

Folgende sichere Grenzen für die fünf in der Studie betrachteten Einflussfaktoren im Wasserkreislauf finden die Autoren: Die globale Erwärmung darf höchstens 1,5 Grad betragen, es kommt also auf globale Klimaschutzpolitik an. Nötig sind mindestens 1.800 Millimeter Jahresniederschlag, das Wasserdefizit innerhalb eines Jahres darf höchstens 350 Millimeter betragen, die Trockenzeit darf höchstens fünf Monate dauern. Und die Entwaldung muss unter zehn Prozent liegen.

Dann wird der Kipppunkt mit der Umwandlung in eine Savanne nicht erreicht. Die notwendigen lokalen Maßnahmen sind: Stopp der Entwaldung und Walddegradation, Unterstützung der Wiederaufforstung in degradierten Regionen.

Das sehr große und interdisziplinäre Team hat das gesamte dazu vorhandene und bisher oft verstreute Wissen aus verschiedenen Teilen des Amazonasgebiets zusammengefasst. Es hat nicht nur alle Länder im Amazonasbecken zum Stopp der Abholzung und zur Wiederaufforstung aufgerufen, sondern unausgesprochen auch die durch billige Agrarimporte von den Abholzungen profitierenden Länder wie Deutschland zur Mithilfe aufgefordert.

Auch die Debatte zum Lieferkettengesetz der EU sollte diesen Aspekt stärker als bisher einbeziehen. Immer mehr wird dadurch klar, dass wie im Klimasystem auch in der Wirtschaft alles mit allem zusammenhängt und global koordiniertes Handeln notwendig ist.

Fragen: Jörg Staude