Aus einem roten Algenwald schaut ein tropischer Fisch heraus.
In tropischen und subtropischen Gewässern sind bei einem "Overshoot" bis zu 90 Prozent der Populationen bedroht. (Foto: Gilles Brignardello/​Shutterstock)

Physikalisch ist noch alles drin. Laut dem neuesten Sachstandsbericht des Weltklimarats IPCC können die im Pariser Klimaabkommen vereinbarten Temperaturgrenzen immer noch eingehalten werden, sogar das 1,5-Grad-Limit. Voraussetzung ist aber, dass sofort mit konsequentem Klimaschutz begonnen wird, ohne Lücken und Schlupflöcher.

Das zeichnet sich bislang nicht ab. Eher im Gegenteil. Beim G7-Gipfel in Elmau droht sogar ein klimapolitisches Rollback. Der eigentlich schon beschlossene Ausstieg aus fossilen Investitionen könnte wieder kassiert werden, um weiter Geld in den Ausbau von Erdgasinfrastruktur im Ausland zu stecken.

Läuft es so weiter, ohne dass ernsthaft Klimaschutz betrieben wird, steigen die Temperaturen laut IPCC bis Ende des Jahrhunderts um mindestens zwei Grad, möglicherweise sogar um 3,5 Grad. Ein erschreckendes Szenario.

Zwar ließe sich diese extreme Erhitzung wieder rückgängig machen. Dafür müsste man für sogenannte negative Emissionen sorgen, also das zuvor emittierte CO2 aufwendig wieder aus der Luft holen. Auf diese Weise würde das Temperaturlimit von 1,5 bis zwei Grad nicht unwiederbringlich, sondern nur für einen gewissen Zeitraum überschritten werden. Overshoot lautet dafür der Fachbegriff.

Doch ein Overshoot-Szenario birgt enorme Risiken – und hätte für die biologische Vielfalt eben doch unwiederbringliche Folgen, wie eine am Montag veröffentlichte Studie der Universität Kapstadt und des University College London zeigt.

Demnach drohen den globalen Ökosystemen erhebliche und teils unumkehrbare Schäden, wenn das Zwei-Grad-Limit gerissen wird. Genauer gesagt, selbst wenn das Limit nur vorübergehend gerissen wird.

Viele Arten können sich nicht wieder erholen

Die Forschenden haben für ihre Studie die Overshoot-Auswirkungen auf über 30.000 Arten untersucht, die an Land und unter Wasser leben – Amphibien, Vögel, Säugetiere, Reptilien, Meeresfische, wirbellose Meerestiere und Seegräser.

Ihrer Analyse legten sie folgendes Szenario zugrunde: Bis 2040 steigen die Emissionen wie gehabt. Danach wird der Ausstoß von Treibhausgasen stark reduziert, sodass 2070 die Netto-Null erreicht ist, also per Saldo kein CO2 mehr emittiert wird. Anschließend wird der Atmosphäre 70 Jahre lang CO2 entzogen, also bis 2140.

Bei diesen – aus heutiger Sicht noch recht optimistischen – Annahmen wird das Zwei-Grad-Limit im Jahr 2041 überschritten und im Jahr 2102 wieder unterschritten, also nach 60 Jahren. Der Temperaturpeak würde in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts erreicht werden und bei rund 2,5 Grad liegen. Erst nach 2200 würde die Erwärmung auf nur noch 1,7 Grad zurückgehen. (Das 1,5-Grad-Limit ist in diesem Szenario nicht zu schaffen.)

Auch wenn ein Peak von 2,5 Grad und ein Overshoot-Zeitraum von 60 Jahren nicht extrem dramatisch klingen mag, für die Artenvielfalt sieht das, wie die Studienergebnisse zeigen, anders aus.

Die Auswirkungen eines Overshoot auf die Arten treten aller Wahrscheinlichkeit nach abrupt ein. Und sie verschwinden danach nur sehr langsam. Nach den Berechnungen in der Studie dauert es im Schnitt 130 Jahre (bei Arten an Land) beziehungsweise 100 Jahre (bei Arten im Wasser), bis sie sich von 60 Jahren Overshoot wieder "erholt" haben. Die Auswirkungen des Hitzestresses dauern also 66 beziehungsweise 115 Prozent länger als die Temperaturüberschreitung.

Je nach Region kann es für die dort lebenden Arten unmöglich sein, sich überhaupt wieder zu erholen. Bei mehr als einem Viertel der untersuchten Standorte ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Arten wieder in den Zustand vor der Überschreitung zurückkehren, entweder ungewiss oder null.

Marine Ökosysteme haben dabei ein höheres Risiko als Land-Ökosysteme, da die Ozeane mehr Wärme speichern. Ganz besonders betroffen sind die tropischen und subtropischen Regionen, hier sind bis zu 90 Prozent der Populationen gefährdet.

Auch in artenreichen Regionen wie dem Amazonasbecken und der Karibik ist die Gefährdung besonders hoch. In vielen Artengruppen erreicht sie über 50 Prozent.

Nicht genug Flächen für die Ausgleichs-Pflanzungen

Dabei ist es nicht nur der zusätzliche Hitzestress, der die biologische Vielfalt gefährdet. Wie die Studie zeigt, stellen auch die Methoden, mit denen negative Emissionen erzeugt werden können, ein großes Risiko dar.

Das gilt zum einen für großtechnische Verfahren wie BECCS (Bioenergie mit CCS), bei dem Plantagen mit schnell wachsenden Pflanzen angelegt werden, die man dann verbrennt. Das CO2, das die Pflanzen zuvor aufgenommen haben und das dabei frei wird, wird abgeschieden und unterirdisch verpresst.

Riskant ist aber auch die Aufforstung, die einen sehr viel besseren Ruf hat als BECCS. Beide haben einen enormen Flächenbedarf für die Pflanzungen und können die zur Erhaltung der biologischen Vielfalt und zur Nahrungsmittelproduktion verfügbaren Flächen verringern. Zudem ist der Anbau von Bioenergiepflanzen mit einem höheren Wasserverbrauch und Stickstoffeinsatz verbunden.

Werden unbewaldete natürliche Ökosysteme wie Grasland und Savannen mit Bäumen bepflanzt, kann das sogar die Erwärmung verstärken, weil Wälder mehr einfallende Sonnenstrahlung absorbieren als etwa Grünland. Auch die Gefahr, dass es zu Waldbränden kommt, bei denen große Mengen an Treibhausgasen entstehen, muss bedacht werden.

Und schließlich: Werden die Temperaturlimits überschritten, ist mit einer verringerten landwirtschaftlichen Produktivität zu rechnen. Dies kann zu einer weiteren Umwandlung natürlicher Flächen in Agrarflächen führen. Für die Natur und die Artenvielfalt bliebe schlichtweg noch weniger Platz übrig.

"Die Vermeidung einer Temperaturüberschreitung ist eine Priorität, um die Risiken des Klimawandels für die biologische Vielfalt zu verringern", heißt es zusammenfassend in der Studie, "gefolgt von der Begrenzung des Ausmaßes und der Dauer einer Überschreitung". Diese Warnung enthält auch der jüngste Sachstandsbericht des IPCC.

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