Hartmut Graßl. (Foto: MPI-M)

Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrates erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Professor Hartmut Graßl, Physiker und Meteorologe.

Klimareporte: Herr Graßl, Klimaforscher haben 16 Kippelemente identifiziert, die bei unterschiedlichen Temperatur-Schwellenwerten ausgelöst werden und die Klimareporter° in einer Serie vorstellt. Bei welchen dieser Elemente ist ein "Kippen" besonders wahrscheinlich?

Harmut Graßl: Zentrale Kippelemente im Klimasystem, die sicherlich global wirken, sind erstens solche, die den Treibhauseffekt der Atmosphäre zusätzlich verstärken und dadurch lange anhalten. Dazu gehört der Permafrost-Schwund, aber auch der Zerfall der Methanhydrate am Ozeanboden. In beiden Fällen entweicht Methan in die Atmosphäre.

Bei den Methanhydraten ist jedoch noch nicht klar, ob der Auflösungsprozess schon wesentlich begonnen hat und wie viel von dem Methan schon im Ozean oxidiert wird und dann dort das Hydrogenkarbonat anreichert. Der größte Teil davon würde im Ozean bleiben. Dieses Kippelement kann also bisher sehr schlecht abgeschätzt werden.

Auftauende Permafrostböden emittieren dagegen Kohlendioxid direkt in die Atmosphäre, wo es weit länger als Methan verweilt. Deshalb stimuliert der Schwund des Permafrostes eine weitere globale Erwärmung über Jahrhunderte bis zu Jahrtausenden.

Außerdem wird in vielen Permafrostregionen die im Sommer auftauende Schicht mächtiger, sodass der Kohlenstoffspeicher auch in den Regionen mit weiter kontinuierlichem Permafrost schwindet.

In manchen Regionen mit nicht flächendeckend vorhandenem Permafrost – zum Beispiel nur auf einer Talseite – werden die Permafrostinseln rasch kleiner, sodass diese Regionen zum weiter erhöhten Treibhauseffekt der Atmosphäre besonders stark beitragen können.

Die Abschätzung der Methan- und Kohlendioxidmengen, die so in die Atmosphäre entlassen werden, ist noch recht schwierig. Klimapolitik wird daher weiterhin mit großen Unsicherheiten rechnen müssen.

Das sollte aber niemanden davon abhalten, im Sinne der Vorsorge aktive Klimaschutzpolitik zu betreiben. Auch weil die erneuerbaren Energien längst preiswerter sind als die fossilen – jedenfalls wenn die Preise die Wahrheit sagen und die bisher von der Allgemeinheit getragenen Zusatzkosten von den Verursachern bezahlt werden würden.

Das Sturmtief Sabine, das vergangene Woche über Deutschland zog, entzweite die Meteorologen. Während Jörg Kachelmann es als Unsinn abtut, Sabine mit dem Klimawandel in Verbindung zu bringen, bezweifelt der ZDF-Meteorologe Özden Terli den Einfluss des Klimawandels nicht. Was sagen Sie als Meteorologe und Klimaforscher?

Seit wenigen Jahren lässt sich wegen der stark verbesserten Modellierung mit gekoppelten Atmosphäre-Ozean-Land-Modellen für extreme Wetterbedingungen abschätzen, ob der erhöhte Treibhauseffekt der Atmosphäre mitgespielt hat. Das war zum Beispiel für den Sommer 2018 in Teilen Europas möglich, ebenso für die Hochwasser in Frankreich, Großbritannien und den USA in den vergangenen Jahren.

Für den Orkan Sabine werden das wahrscheinlich einige Forschergruppen untersuchen. Sie werden aber besonders große Fehlerbalken finden, weil die gemessenen Windgeschwindigkeiten keineswegs die sehr hohen Werte in anderen Winterstürmen wie bei Lothar und Kyrill erreicht haben.

Da die Warnungen des Wetterdienstes recht früh einsetzten und recht nahe an der Wirklichkeit waren, ist allerdings auch die Reaktion vieler Behörden, der Bahn und der Fluglinien dafür verantwortlich, dass die Schäden vergleichsweise gering blieben. Während es für heftige Regenereignisse in Gewittern vielfältig beobachtete Zunahmen aufgrund der Erwärmung gibt, ist das für die Winterstürme in unseren Breiten nicht belegt.

Zwei physikalische Prozesse, einer verstärkend und einer reduzierend, konkurrieren hier miteinander: Der breitenabhängige Druckgradient als Antrieb für Tiefdruckbildung wird wegen der stärkeren Erwärmung in hohen Breiten schwächer, aber die frei werdende Kondensationswärme nimmt mit ansteigender Temperatur zu.

Vor einigen Jahren hat mein damaliger Institutskollege Lennart Bengtsson dazu gesagt: Es bläst nicht stärker, aber mehr Regen fällt aus einem winterlichen Sturmtief, wenn die mittlere globale Erwärmung weiter zunimmt.

Nur drei Staaten haben ihre verbesserten Klimaziele fristgemäß neun Monate vor der nächsten Klimakonferenz COP 26 vorgelegt. Ist das eine symbolische Frist – etliche Länder haben ja schon angekündigt, ihre Ziele zu erhöhen – oder braucht es so frühe Einreichungen, damit die UN-Klimaverhandlungen vorankommen

Dass die Vertragsstaaten ihre Klimaschutzziele im Fünf-Jahres-Rhythmus steigern sollen, ist ein wesentlicher Mechanismus des Paris-Abkommens. Nur weil dabei die Freiwilligkeit der nationalen Beiträge vereinbart worden ist, kam das Abkommen überhaupt zustande.

Mit jeder direkten oder indirekten Preisminderung für die Energie aus regenerativen Quellen werden daher die Zusagen mutiger, wie jetzt von Norwegen.

Ein schönes Beispiel für indirekte Verbilligung der erneuerbaren Energien ist die rasche Emissionsminderung aus Kohlekraftwerken in Deutschland von 2018 auf 2019 um fast 20 Prozent. Denn der europäische Emissionshandel für diese Kraftwerke hat bei einem Kohlendioxid-Preis eindeutig über 20 Euro pro Tonne die Betreiber veranlasst, die alten früheren Dukatenesel, die jetzt zu Verlusten führen, vorübergehend abzuschalten, einzumotten oder wirklich stillzulegen.

Wie üblich warten jetzt die Hauptemittenten auf die Ziele der anderen, um sie vielleicht noch knapp zu übertreffen. Auch derjenige Vertragsstaat, der mit den neuen Zielen bis zur COP 26 wartet, wird zwar für diese lässliche Sünde sicher nicht gelobt, ist aber genauso dabei wie die frühen Melder.

Und was war Ihre Überraschung der Woche?

Die heftige Kritik aus Baden-Württemberg am Kohleausstiegsgesetz der Bundesregierung. Weil die Energieversorgung des Bundeslandes auch von Steinkohlekraftwerken gesichert wird und die Kernkraftwerke ja in drei Jahren vom Netz sein müssen, sagen der baden-württembergische Ministerpräsident und sein Umweltminister: Es sei absurd, moderne Steinkohlekraftwerke vor alten, ineffizienten und dreckigen Braunkohlekraftwerken abzuschalten.

Die Bundesregierung bevorzugt so wieder die klimaschädlichste fossile Energiequelle, die Braunkohle, und legt die fast panische Angst der jetzigen Landesregierungen vor vergleichsweise geringen Arbeitsplatzverlusten in alten Industrien offen.

Es zeigt sich aber auch klar, wie stark die fossile Lobby ist, deren Bodenschätze durch die immer billigeren erneuerbaren Energien entwertet werden. Jedes Jahr Verzögerung beim Abschalten ihrer Kraftwerke und beim Ausbau der erneuerbaren Konkurrenz ist ein Teilsieg der fossilen Lobby.

Wie schon beim Klimaschutzgesetz, hat nun der Bundesrat wieder einmal die Chance, das Land etwas voranzubringen.

Fragen: Sandra Kirchner

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