Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrates erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Professor Hartmut Graßl, Physiker und Meteorologe.
Klimareporter°: Herr Graßl, die Klimaziele der Staaten, die sogenannten NDCs, reichen nicht annähernd aus, um die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu beschränken. Laut dem NDC-Report, der am Mittwoch vorgelegt wurde, werden bis 2100 die globalen Durchschnittstemperaturen auf 2,1 bis 2,9 Grad im Vergleich zum vorindustriellen Niveau steigen. Ist das 1,5-Grad-Limit überhaupt noch einzuhalten – und warum ist es wichtig, diese Grenze nur minimal zu überschreiten?
Hartmut Graßl: Es ist seit Langem bekannt, dass die bisher versprochenen Beiträge der Vertragsstaaten im Rahmen des Pariser Klimaabkommens – die "Nationally Determined Contributions oder kurz NDCs –, keineswegs genügen, um die zentralen Ziele des Abkommens zu erreichen.
Auch die neueste Fortschreibung zeigt, dass das Handeln weiterhin zu wünschen übrig lässt. Von den 193 Vertragsstaaten haben bis zum 23. September nur 142 Staaten ihre Klimaschutzziele mindestens bestätigt. Von diesen haben nur 39 neue oder verbesserte Ziele genannt, und davon wiederum liegen bei nur 24 Staaten die Ziele über denen, die bei der letztjährigen Vertragsstaatenkonferenz COP 26 in Glasgow vorlagen.
Die daraus resultierende mittlere globale Erwärmung seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts liegt einschließlich der Klimamodellunsicherheit zwischen 2,1 und 2,9 Grad. Wenigstens einige der Kipppunkte im Klimasystem werden damit nicht erreicht. Doch das Abschmelzen des Grönländischen Eisschildes und damit ein Meeresspiegelanstieg um bis zu sieben Meter über viele Jahrhunderte kann mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr verhindert werden.
Es bleibt zu hoffen, dass bei der COP 27, die in einer Woche in Ägypten beginnt, wichtige Staaten nachlegen. In dem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass das Paris-Abkommen als Hauptziel nur eine mittlere globale Erwärmung "wesentlich unter zwei Grad" hat – die 1,5 Grad sollen nur angestrebt werden, sind aber nicht verbindlich.
Der Klimawandel bedroht die Gesundheit vieler Menschen: Die Ernährungsunsicherheit verschärft sich, mehr Menschen sterben durch Hitze, Infektionskrankheiten sowie lebensbedrohliches Extremwetter nehmen zu. Wie können wir unsere gesundheitliche Resilienz gegenüber dem Klimawandel stärken?
Klimaschutz ist immer auch Gesundheitsschutz. Denn viele der gesundheitsgefährdenden Belastungen in Luft, Wasser und Böden sind eine Folge der Nutzung fossiler Energieträger, die auch der Hauptgrund für die Klimaänderungen sind.
Ein Beispiel ist der mit krebserregenden Substanzen beladene Diesel- oder Ölheizungsruß in der Luft, ein anderes die durch Stickoxidemissionen aus Kraftfahrzeugen ausgelöste Ozonbelastung unserer Atemluft. Oder nehmen Sie die mit Nährstoffen aus der Überdüngung der Böden belasteten Gewässer, die zu Sauerstoffarmut in Flüssen und Küstenregionen führen.
Der Ausstieg aus den fossilen Energieträgern wäre deshalb für uns Menschen sehr gesundheitsfördernd, käme er nur schneller voran. Alle diese Gesundheitsgefährdungen sind Folgen der fehlenden Internalisierung externer Effekte. In anderen Worten: Der Verursacher musste für die Schäden nicht aufkommen, er konnte – von der Politik gestattet – die Kosten auf die Allgemeinheit abwälzen.
Wir haben allerdings sehr viel Zeit verstreichen lassen, bis wir erste wesentliche Klimaschutzmaßnahmen ergriffen haben – seit etwa 30 Jahren ist die anthropogene Klimaänderung ja wissenschaftlich klar erkannt. Jetzt kommen die Gesundheitsgefährdungen durch die jahrzehntelang nicht verhinderten Klimaänderungen hinzu.
Das sind nicht nur die stärkeren und häufigeren Hitzewellen, sondern auch die Ernteeinbußen wegen der sich häufenden Dürren in trockeneren Gebieten. Oder die zunehmende Dauer der Belastung der Allergiker durch die bis zu 20 Tage früher in der Atemluft vorhandenen Blütenpollen. Oder die in höhere geografische Breiten einwandernden und zum Beispiel durch Zecken oder Mücken übertragenen Infektionskrankheiten.
Durch Hitzewellen müsste eigentlich niemand sterben, weil wir gekühlte Räume haben oder bereitstellen könnten. Dennoch sterben bei uns noch immer viele hilfsbedürftige und besonders hitzegeplagte ältere Menschen, weil wir uns nicht ausreichend um sie kümmern, zum Beispiel in Pflegeheimen ohne klimatisierte Räume. In den heißen Ländern sterben vor allem zugewanderte Arbeiter, weil sie – wie auf der Arabischen Halbinsel – bei Temperaturen über 40 Grad arbeiten müssen.
Im sechsten Bericht der Arbeitsgruppe zwei des "Weltklimarates" IPCC aus dem vergangenen Februar wird gezeigt, wie durch Anpassungsmaßnahmen viele der Gesundheitsrisiken stark gemildert werden können, zum Beispiel die von Mücken übertragenen Infektionskrankheiten Malaria und Dengue-Fieber.
Nach den Niederlanden, Spanien, Polen und Italien hat nun auch Frankreich angekündigt, aus dem Energiecharta-Vertrag auszusteigen, auch weil sich der Vertrag, der fossile Investitionen absichern sollte, offenbar nur schwer reformieren lässt. Was sollte Deutschland hier tun?
Der Energiecharta-Vertrag ist 1994 in Lissabon unterzeichnet worden. Die ihm zugrunde liegende Energiecharta wurde bereits 1991 in Den Haag beschlossen, also kurz nach dem Ende des Kalten Krieges, um einen multilateralen Rahmen für die fossile Energieindustrie der früheren Sowjetunion und ihrer osteuropäischen Nachbarländer zu schaffen.
Vor allem ging es darum, den fossilen Energiehunger der westlichen Industriestaaten zu stillen. Das Abkommen regelt speziell den internationalen Handel mit Kohle, Erdöl und Erdgas, deren Durchleitung, die zugehörigen Investitionen und Fragen zur Energieeffizienz. Der Vertrag ist seit 1998 in Kraft.
Als Klimaforscher ist mir bei der Beschäftigung mit diesem Vertrag besonders klar geworden, wie stark politische Entscheidungen dem etablierten Wissen hinterherhinken. Im zweiten Sachstandsbericht des IPCC beschrieben wir Wissenschaftler 1995 das anthropogene Klimasignal mit dem Satz: "Die Beweislage deutet auf einen erkennbaren menschlichen Einfluss auf das globale Klima hin."
Aber die politische Energiewelt ebnet Jahrzehnte danach noch immer den Weg für den Höhenflug der fossilen Energieträger und damit die Beschleunigung der Klimaänderungen. Und erst 2021 bekam mein Kollege Klaus Hasselmann für den wissenschaftlichen Durchbruch, der dem obigen Satz zugrunde lag, den Nobelpreis für Physik – weil auch Wissenschaftsakademien von der politischen Stimmungslage abhängen.
In jüngster Zeit ist der Energiecharta-Vertrag immer stärker kritisiert worden, weil er ein Hindernis für nationale Klimaschutzmaßnahmen ist. Für Streitfälle im Zusammenhang mit fossilen Energielieferungen sind extra eingerichtete Schiedsgerichte zuständig und es drohen finanzielle Verluste für die Vertragsstaaten. Damit wird ihnen die Einhaltung von wichtigen Klimaschutzvereinbarungen wie dem Paris-Abkommen stark erschwert.
Eine Reform des Energiecharta-Vertrags ist gescheitert und einige EU-Länder sind nun ausgestiegen oder wollen es tun. Zudem hat der Europäische Gerichtshof im September 2021 die Energiecharta für Streitigkeiten zwischen den Mitgliedern der Europäischen Union für unwirksam erklärt. Es ist eine Frage der Zeit, bis auch das notorisch zögerliche Deutschland den Aussteigern folgt und damit das Sterbeglöcklein für den Energiecharta-Vertrag läutet.
Und was war Ihre Überraschung der Woche?
Das wirkliche Ende des Verbrennungsmotors in Autos für die EU. Am Donnerstagabend haben die Unterhändler der EU-Mitgliedsländer und des Europaparlaments, die geplanten EU-Gesetzen zustimmen müssen, sowie die Europäische Kommission, die neue EU-Gesetze entwirft, für 2035 das Ende des Verbrennungsmotors in Neuwagen verkündet, das vom EU-Parlament schon im Juni dieses Jahres beschlossen worden war.
Diese industriepolitisch fundamentale Entscheidung ist in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzen. Damit muss sich eine Säule der Industrie in vielen europäischen Ländern neu orientieren – was sie zum Teil auch schon getan hat. Und auch die Gesundheitsgefährdung durch Luftverschmutzung wird wesentlich abnehmen.
Auf dem Weg zum vollständig CO2-freien Betrieb von Automobilen bis 2035 sind für die Jahre 2025 und 2030 zwei Zwischenschritte geplant. So soll das geltende EU-Ziel einer Treibhausgasminderung um 55 Prozent bis 2030 erreicht werden.
Zwar soll es im Jahr 2026 eine Überprüfung geben, ob 2035 auch noch sogenannte E-Fuels, also aus erneuerbaren Energien geschaffene, dem Benzin oder Diesel ähnliche Treibstoffe, möglich sind. Das gilt aber als wenig wahrscheinliche Variante, die vor allem vom deutschen Verkehrsminister gewünscht worden war.
Wie für einen Kompromiss üblich, kommt er für Umweltverbände zu spät und für die Autolobby zu früh. Die EU zeigt für mich erneut in typischer Manier ihre Entscheidungsfähigkeit.
Fragen: Sandra Kirchner