Alle Welt feiert es jetzt schon als starkes Signal, dass das 1,5-Grad-Ziel in einem neuen Weltklimavertrag stehen soll. Doch was diese Zahl für Konsequenzen hat, sei den Wenigsten klar, erklären führende Klimawissenschaftler am Freitag in Paris: Bis 2030 müssen die wohlhabenden Länder ohne Kohle- und Gaskraftwerke auskommen und ihre Treibhausgas-Emissionen auf null drücken.
Bis 2050 muss die ganze Welt dekarbonisiert sein. Und ab 2070 der Atmosphäre massiv CO2-Emissionen massiv entzogen haben. Wenn es knapp wird, eben auch mit Risikotechnologien, über die bisher noch kaum gesprochen wird. Wer das 1,5-Grad-Ziel ernst nimmt, muss im neuen Weltklimavertrag auch sagen, wie er das erreichen will.
Aus diesem Grund lassen die Diplomaten die Klimawissenschaftler etwas ratlos zurück. Steffen Kallbekken begrüßt zwar die Verankerung des 1,5-Grad-Ziels im Vertragsentwurf. Das Problem ist nur: Wenn die Welt nach dem möglichen Inkrafttreten des Vertrags im Jahr 2020 damit beginnt, die Marke anzupeilen, ist es längst zu spät. "Dann haben wir unser CO2-Budget schon erschöpft", warnt der Forschungsdirektor des norwegischen Cicero-Instituts.
"Das ist eine politische Diskussion"
Ein Grundproblem des Klimagipfels in Paris: Das, was die Länder nach Maßgabe ihrer nationalen Interessen im Geschacher und Gefeilsche der Länder aushandeln, hat nicht unbedingt etwas mit der Realität zu tun. Den Politikern sei gar nicht richtig klar, was ihre Entscheidungen bedeuten. Die Verankerung des 1,5-Grad-Ziels ist da das beste Beispiel.
"Das ist eine politische Diskussion", sagt Johan Rockström, Leiter des Stockholm Resilience Centre. Stimmig mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen sei das aber nicht. Auf der einen Seite wird das große Ziel bei der Erderwärmung verschärft – doch gleichzeitig werden die Maßnahmen, die für dessen Erreichen nötig wären, Stück für Stück auf dem Vertragsentwurf getilgt.
So ist aus dem aktuellen Text die Warnung des Weltklimarats herausgeflogen, dass bis 2050 der CO2-Ausstoß um 70 bis 95 Prozent vermindert werden muss. "Das wurde durch ziemlich vage Angaben ersetzt", meint Kallbekken. "Das sendet keine klare Botschaft aus." Auch findet sich kein Hinweis darauf, dass 90 Prozent der fossilen Reserven im Boden bleiben müssen, um selbst das Zwei-Grad-Ziel noch zu erreichen. "Der derzeitige Text liegt zwischen gefährlich und tödlich", sagt Kevin Anderson von der Universität Manchester.
Und auch das nötige Ziel der Dekarbonisierung bis zur Mitte des Jahrhunderts findet sich nicht im aktuellen Text. Stattdessen sollen die Staaten nun auf lange Sicht "emissionsneutral" werden, heißt es in Artikel 3 des Entwurfs. Das ist für die Wissenschaftler zwar ein Fortschritt zur Formulierung "klimaneutral", aber eben auch weniger ambitioniert als "Dekarbonisierung". Zwar handelt es sich nur um ein Wort. Doch das kann im Klimaschutz auf lange Sicht viel ausmachen. Welcher Klimaschutz-Pfad ab Montag in den nächsten fünfzehn Jahren beschritten wird, kann von ein paar Buchstaben abhängen.
Globale CO2-Spitze spätestens in fünf Jahren
"Dekarbonisierung heißt, wirklich aus den fossilen Energien auszusteigen", sagt Rockström. "Klimaneutralität kann auch mit Negativ-Emissionen und CO2-Senken erreicht werden." Etwa durch die Speicherung von CO2 aus Kohlekraftwerken im Untergrund – das stark umstrittene CCS. "Emissionsneutralität" liege ungefähr dazwischen, erläutert der Wissenschaftler, sei aber auch kein Bekenntnis zum kompletten Ausstieg aus Kohle, Gas und Öl. "Wir müssen bedenken: Der Vertrag ist auch ein Signal an die Investoren", sagt Rockström. "Klimaneutralität ist das falsche Signal."
Im besagten Artikel 3 des neuen Entwurfs heißt es zu dem umstrittenen Langfrist-Ziel nur, dass die Staaten den Höhepunkt ihrer Emissionen "so schnell wie möglich" erreichen sollten. Zudem wird den Entwicklungsländern ein längerer Zeitraum für diesen Emissions-Peak gewährt.
"Sofort an nationalen Dekarbonisierungsplänen arbeiten"
Was das bedeutet, beantwortet der Vertragsentwurf nicht, wohl aber die Wissenschaftler: Der Chef des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) Hans Joachim Schellnhuber geht davon aus, dass die Emissionen in diesem Jahrhundert durchaus die kritische Marke von 450 ppm überschreiten dürfen – allerdings müsse es bei einem Überschreiten für wenige Jahrzehnte bleiben. Danach müsse das CO2 wieder eingefangen werden.
In den Verhandlungen sollte das jetzt allerdings noch keine Rolle spielen. "Das ist eine sehr problematische Wette, die negativen Emissionen schon im Hinterkopf zu haben", sagt Schellnhuber. "Eigentlich müssen die Minister der Industriestaaten am Montag nach Hause fahren und sofort anfangen, an nationalen Dekarbonisierungsplänen zu arbeiten", meint der PIK-Chef. "Bis 2050 müssen wir zumindest im Norden CO2-frei wirtschaften, sonst ist das Kippen des Klimas nicht mehr zu verhindern."
Deutlich pointierter formuliert es sein Kollege Rockström: "Wenn wir noch eine Chance haben wollen, müssen wir am Montagmorgen nach der Klimakonferenz das Licht abschalten."
Ergänzung am 12. Dezember: Der Pariser Klimavertrag wurde beschlossen