Porträtaufnahme von Hartmut Graßl.
Hartmut Graßl. (Foto: Christoph Mischke/​VDW)

Immer wieder sonntags, diesmal am Montag: Die Mitglieder unseres Herausgeberrates erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Professor Hartmut Graßl, Physiker und Meteorologe.

Klimareporter°: Herr Graßl, der Club of Rome hat ein neues Gutachten vorgelegt, einen "Überlebensratgeber" für die Welt. Das Rezept: Soziale Ungleichheit verringern, um die Klimakrise zu lösen. Die Steuern auf Immobilien, Vermögen und Erbschaften sowie auf hohe Gewinne und Einkommen müssen steigen.

Brauchen wir eher Sozialpolitik als Klimapolitik, um das 1,5-Grad-Ziel noch zu schaffen?

Hartmut Graßl: Der jüngste Bericht des Club of Rome erinnert mich sehr an die Enzyklika "Laudato Si'" von Papst Franziskus, die an Pfingsten 2015, also vor über sieben Jahren, veröffentlicht worden ist.

Darin wird von der integralen Ökologie gesprochen, die als ein Hauptanliegen die Verminderung der Ungleichheit zwischen den Ländern und in den einzelnen Gesellschaften hat. Der Titel des neuesten Berichts, "Earth for All", spricht das ebenfalls an.

Ich hoffe, dass der Bericht die Regierungen zu mehr Aktion veranlasst, denn die beiden zentralen Bedrohungen für die Menschheit, die raschen globalen Klimaänderungen und der Verlust der biologischen Vielfalt, müssen dringend abgewendet werden.

In diesem Zusammenhang möchte ich auf einen zentralen und nicht häufig erwähnten Trend hinweisen, die globale Bevölkerungsentwicklung. Während die Hochrechnungen der UN weiter von etwa zehn Milliarden Menschen im Jahr 2100 und damit einer weiteren Steigerung der Probleme ausgehen, sind neueste wissenschaftliche Veröffentlichungen zum Bevölkerungszuwachs viel optimistischer, auch weil die beobachtete Abnahme der Zuwachsrate der Gesamtbevölkerung anhält und jetzt klar unter einem Prozent pro Jahr liegt.

Der wichtigste Parameter für Trendabschätzungen ist hier die Zahl der Kinder pro Frau. Und dieser Parameter hängt sehr stark von der Bildung der Mädchen und Frauen ab. Es gilt also: Der beste Klimaschutz ist Bildung für Mädchen und Frauen.

Nach der jüngsten derartigen Abschätzung von Stein Vollset und Kollegen werden wir wahrscheinlich schon in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts, frühestens um 2064, die maximale Zahl der Menschen erreichen. Schon 2100 würde dann die Zahl der Menschen auf 8,8 Milliarden sinken.

Die empirische Zahl der Kinder pro Frau liegt in fast allen Ländern im Mittel bei 1,5 für die gebildeten Familien. Klimapolitik bedeutet also auch Sozialpolitik, einschließlich einer liberaleren Einwanderungspolitik für Länder mit schrumpfender Bevölkerung.

Der Weltklimarat kam im jüngsten Sachstandsbericht noch zum Ergebnis, dass durch das Abschmelzen des Grönländischen Eisschildes bis 2100 mit einem Anstieg von sechs bis 13 Zentimetern zu rechnen ist. Nun haben Forschende aus Dänemark neue Untersuchungen veröffentlicht: Sie gehen infolge des schmelzenden Grönlandeises von einem Anstieg des Meeresspiegels von 27 Zentimetern. Wie ist diese deutliche Diskrepanz zu erklären?

Wissenschaftler, die zu Klimaänderungen durch den Menschen forschen, können immer stärker auch die beobachteten raschen Änderungen der jüngsten Jahrzehnte miteinbeziehen.

Weil dadurch auch Beobachtungen aus einer Zeit berücksichtigt werden, die besonders rasche, natürlicherweise nicht vorkommende Veränderungen enthalten – meist gestützt durch flächendeckende Satellitendaten –, liefern ihre Schätzungen für die kommenden Jahrzehnte immer höhere Änderungsraten.

Eine solche neue Schätzung für den Verlust an Eismasse auf Grönland kommt daher folgerichtig zu höheren Beiträgen als bisher zum Meeresspiegelanstieg.

Während noch vor 20 Jahren der Hauptbeitrag zum globalen Meeresspiegelanstieg von der Ausdehnung des sich erwärmenden oberen Ozeans stammte, übernimmt jetzt das grönländische Inlandeis diesen Hauptbeitrag.

Damit ergibt sich eine neue zentrale Frage: Haben wir hier schon jetzt den Kipppunkt überschritten und können nur noch den Zerfall des Inlandeises beobachten? Für die Antwort ist entscheidend, ob bei weiterer Erwärmung so viel mehr Niederschlag im Inneren Grönlands fällt, dass sich große Teile des Inlandeises länger halten können.

Pakistan wurde von einer verheerenden Flut getroffen, für die der Begriff Jahrhundertflut schon zu klein erscheint. Unter Klimawissenschaftlern gibt es Debatten darüber, inwieweit der Klimawandel den Monsun so stark verändert hat, dass dies nun die Folgen sind. Wie sehen Sie das?

Medien sprechen gerne von Jahrhundert- oder gar Jahrtausendfluten. Die alte Grundvorstellung vom Klima als der Langzeitstatistik eines Parameters – Temperatur oder Niederschlag – ist in der heutigen Zeit mit ihren raschen globalen Klimaänderungen nicht mehr zutreffend. Denn sie impliziert, dass – misst man nur lange genug – das Klima mit seinen Abweichungen vom Mittelwert besser beschrieben sei.

In der heutigen Zeit mit den raschen Änderungen können sich auch die Verteilungen um den Mittelwert ändern, und die Beobachtungen aus früherer Zeit, zum Beispiel aus dem 19. Jahrhundert, gehören dann zu etwas anderen Verteilungsfunktionen, die oft massiv veränderte Werte bei großen Abweichungen vom Mittelwert haben.

Tritt eine solche große Abweichung, also ein Wetterextrem, außerdem noch in einer Region mit fehlenden oder lückenhaften Beobachtungen auf, bleibt vieles spekulativ – wie bei den jetzigen Extremniederschlägen in Teilen von Pakistan.

Für eine erste Abschätzung können die Ergebnisse von Klima- oder Erdsystemmodellen verwendet werden. Ihnen zufolge gibt es eine Tendenz in Richtung eines verstärkt nach Norden ausgreifenden Monsuns auf dem indischen Subkontinent, wie sie auch schon einmal im Jahr 2010 beobachtet wurde.

Für die Bevölkerung in einem Entwicklungsland ist der Aufruf zur besseren Anpassung an ein derart verändertes Klima nur einen Wutausbruch wert, denn wir Industrieländer haben mit unseren Emissionen über mehr als ein Jahrhundert dieses neue Klima mitverursacht. Zudem ist unsere Hilfestellung nach einem solchen Ereignis meist nicht nachhaltig.

Wir schaffen diese Anpassung an veränderte Randbedingungen nicht einmal im eigenen Land, wie die Flutkatastrophe 2021 im Ahrtal belegt.

Und was war Ihre Überraschung der Woche?

Am 3. September konnte ich bei einer internationalen Konferenz über "Humanökölogie und höhere Bildung" am Institut für Transformative Nachhaltigkeitsforschung IASS in Potsdam teilnehmen und den Co-Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung in seinem abschließenden Hauptvortrag hören.

Johan Rockström sagte, dass nach seinen neuesten Berechnungen zu Kipppunkten im Erdsystem auch bei einer mittleren Erderwärmung von nur 1,5 Grad – also einer sehr erfolgreichen Umsetzung des Paris-Abkommens – bereits erste Kipppunkte überschritten werden. Zum Beispiel wird dann das Grönlandeis zum Abschmelzkandidaten und große Teile der Permafrostböden tauen auf.

In der Debatte zum Vortrag warnte er davor, das Paris-Abkommen neu zu verhandeln zu wollen. Stattdessen müsse man hoffen, dass es jetzt noch viel ernster genommen wird. Die in der kommenden Woche bevorstehende Veröffentlichung der neuen Befunde wird sicherlich eine große Debatte auslösen.

Fragen: Jörg Staude und Sandra Kirchner

Anzeige