Am 1. Oktober, null Uhr, beginnt der Anfang vom Ende: Pünktlich ab Mitternacht werden die 500 Megawatt des Blocks F in Jänschwalde kein CO2 mehr emittieren, kurz vor 17 Uhr am Vortag ist der Block vom Netz getrennt worden, wie der Betreiber Leag mitteilte. Der erste der sechs Braunkohle-Blöcke des Lausitzer Kraftwerks geht in die sogenannte Sicherheitsbereitschaft über, eine euphemistische Umschreibung für eine Stilllegung, die nicht so heißen darf, weil die Abschaltung dem Betreiber mit einigen Millionen Euro versüßt wird.
Erste Ironie der Geschichte: Block F ist der "jüngste" der sechs Jänschwalder Blöcke und nicht einmal 30 Jahre in Betrieb, wie die Leag AG bedauert. Genau am 17. November 1988 hatte der Probebetrieb von Block F begonnen und war nach 109 Tagen beendet.
Ende März 1989, war, wie damals das Staats- und Parteiblatt Neues Deutschland verkündete, in Jänschwalde der Aufbau des "Kraftwerks der Jugend" mit allen sechs Blöcken und gesamt 3.000 Megawatt endlich vollendet. Jänschwalde bestimme mit einem Einsatz von nur 1,28 Kilogramm Braunkohle pro erzeugter Kilowattstunde "den Bestwert im Industriezweig", lobte die Zeitung.
Um Klimaschutz ging es bei solchen Bestwerten nicht, sondern darum, aus jeder Tonne des mühsam geförderten Brennstoffes das Maximale herauszuholen. Zu gut 80 Prozent hing die Stromversorgung des Landes namens DDR damals von der Braunkohle ab – gesamtdeutsch ist es fast 30 Jahre später immer noch fast ein Viertel.
Heute gilt das einstige "Kraftwerk der Jugend" mit einem Wirkungsgrad von rund 35 Prozent als veraltet und als eines der klimaschädlichsten Kraftwerke Europas. Um die 23 Millionen Tonnen CO2 pustete es bisher jährlich in die Luft und verbrannte dazu 24 bis 26 Millionen Tonnen Kohle.
Von den 3.000 Megawatt wurden gleich mal um die 200 Megawatt im Kraftwerk selbst verbraucht. Block F muss – obwohl als letzter in Betrieb gegangen – als erster vom Netz, weil die Architektur des Kraftwerks nur einen Rückbau in umgekehrter Reihenfolge zulässt.
"Sicherheitsbereitschaft": Kesselhaus bekommt Heizung
Zweite Ironie der Geschichte: Dauerte der Probebetrieb nur gut drei Monate, so bereitet sich die Leag seit gut fünf Monaten auf die Netztrennung am 1. Oktober vor.
Die Anlage kann nicht einfach eingemottet und demontiert werden, sondern die "Sicherheitsbereitschaft" verlangt, dass der Block innerhalb von zehn Tagen anfahrbereit und nach weiteren 24 Stunden mit voller Leistung am Netz sein können muss – es könnte ja, so die offizielle Lesart, in den kommenden Jahren ein "Blackout" im deutschen Stromnetz drohen.
Also müssen, zählt die Leag penibel auf, die Anlagen konserviert und vor Frost geschützt werden, das Kesselhaus muss abgedichtet und mit einer Heizung ausgestattet werden und so weiter und so fort.
Wie sich das auf die Beschäftigung auswirkt, da bleibt die Leag im Ungefähren: Wenn in einem Jahr als nächster der Block E ebenfalls in diese Bereitschaft geht, würden "über alle Unternehmensbereiche hinweg in Summe etwa 600 Stellen in den nächsten Jahren nicht neu besetzt werden können", erklärte Leag-Vorstandschef Helmar Rendez, seit Mitte des Jahres auch Chef des Braunkohle-Lobbyverbandes Debriv.
Entlassen wird also vorerst niemand. Das hinderte die IG BCE aber nicht daran, am Sonntag symbolisch 600 leere Stühle vor die Cottbuser Stadthalle zu stellen. Die Kohlegewerkschaft multiplizierte die 600 auch sogleich mit dem üblichen Faktor 1,5 – wenn man ausrechnen will, wie viel Jobs in anderen Branchen von der Kohle abhängen – und behauptet also, dass die Region nun 900 weitere Jobs verliere.
An Theatralik in Richtung der in Berlin tagenden Kohlekommission fehlt es dabei nicht: Mehr als ein Dutzend Leag-Mitarbeiter harrt laut IG BCE als Mahnwache bis in die Morgenstunden aus, bis Block F endgültig heruntergefahren ist, denn "ab Mitternacht" – dies sei die Vorgabe der Bundesregierung – dürfe der Block "kein Kohlendioxid mehr emittieren". Man kennt die Inszenierung zur Genüge: die Lausitz als Geisel der Berliner Klimapolitik.
Dass Block F jemals wieder Strom erzeugt, damit rechnet eigentlich niemand. Zu groß sind die Überkapazitäten in Deutschland – so groß, dass Jänschwalde problemlos auch ganz vom Netz gehen könnte, wie die Umweltverbände Klima-Allianz und Grüne Liga fordern.
Teile man die CO2-Menge gerecht auf, die das Pariser Klimaabkommen weltweit noch zulässt, müsse Jänschwalde schon 2019 komplett stillgelegt werden, rechnen die Umweltschützer mit Verweis auf eine Studie des Öko-Instituts und der Beratungsfirma Prognos vor. Auch bei jedem anderen Ausstiegsszenario werde Jänschwalde als erster Lausitzer Standort geschlossen.
Wann der älteste Block A als letzter vom Netz gehen wird, kann derzeit aber niemand seriös voraussagen. Brandenburgs Landesregierung und der Betreiber Leag rechnen offiziell noch mit einem Datum weit nach 2030. Allerdings ist auch vorstellbar, dass das "schmutzigste" Lausitzer Kraftwerk von der Leag geopfert wird, um die beiden moderneren Standorte Schwarze Pumpe und Boxberg länger am Leben zu erhalten.
Die Kohle reicht eigentlich nur noch fünf Jahre
Zudem wird die Kohleversorgung von Jänschwalde immer schwieriger und teurer. Ursprünglich wurde das Kraftwerk von zwei Tagebauen mit Braunkohle beliefert – Cottbus-Nord und Jänschwalde. Cottbus-Nord ist seit Ende 2015 stillgelegt und wird derzeit geflutet. Der Tagebau Jänschwalde wiederum liefert nur rund sieben Millionen Tonnen Kohle jährlich, und das auch nur noch bis 2023.
Den Erweiterungstagebau Jänschwalde-Nord hat die Leag im März 2017 mit dem neuen Revierkonzept aufgegeben – wie auch einen Kraftwerksneubau am Standort Jänschwalde. Diese Investitionen seien wegen der zwischenzeitlich eingetretenen bundespolitischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen unternehmerisch nicht mehr vertretbar, hatte Leag-Chef Rendez damals erklärt – als von einer Kohlekommission und einem Kohle-Ausstiegsdatum noch nicht die Rede war.
Doch obwohl die Leag mit dem Revierkonzept den Standort Jänschwalde praktisch abgeschrieben hat, soll das Kraftwerk nach 2023 noch für acht bis zehn Jahre Strom liefern und mit Kohle aus dem Süden des Reviers betrieben werden.
Damit ist vor allem die Kohle aus dem rund 50 Kilometer südlich gelegenen Tagebau Welzow-Süd gemeint. Ob dieser Tagebau aber um das Feld Welzow-Süd II erweitert wird, um auch Jänschwalde langfristig zu versorgen – diese Entscheidung soll nach dem Willen der Leag 2020 fallen. Bei einer Erweiterung droht 800 Lausitzern in Welzow und dem Ortsteil Proschim die Abbaggerung.
Proschim könnte ein zweiter Hambacher Forst werden
Ein längerer Weiterbetrieb des Kraftwerks Jänschwalde bedroht deswegen die Zukunft von Proschim, wo Menschen seit Jahren in Angst vor einer Zwangsumsiedlung leben müssen, wie René Schuster von der Grünen Liga kritisiert.
Die Auseinandersetzung um Jänschwalde ist deswegen nicht nur eine um das Kraftwerk selbst. Wie schnell die 3.000 Megawatt endgültig vom Netz gehen, ist eine Weichenstellung für die ganze Region. Proschim hat das Zeug, zu einem zweiten Hambacher Forst zu werden.