Die Fundamente von Häusern kippen weg, Straßen sacken ab – und auf Friedhöfen fallen Grabsteine um. An Küsten und Ufern müssen ganze Dörfer umgesiedelt werden, weil der Untergrund instabil wird und erodiert. Dort, wo früher Weideland, war, entstehen plötzlich Seen. Bäume und Sträucher besiedeln die bisherige Tundra.
Es sind gravierende Veränderungen im hohen Norden der Erde, wo die Dauerfrostböden zunehmend aufzutauen beginnen. Doch das ist nur der für die Menschen direkt sichtbare Teil der dramatischen Entwicklung.
Das Auftauen bedeutet auch ein hohes Risiko für das Weltklima. Die Permafrostböden sind eines der besonders gefährdeten Kippelemente im Erdsystem.
Auf der Nordhalbkugel der Erde ist rund ein Viertel der gesamten Landfläche dauerhaft gefroren – vor allem in Sibirien, Alaska und Nordkanada. Es handelt sich bei diesen Strukturen um Relikte aus der letzten Eiszeit, die vor rund 10.000 Jahren zu Ende ging.
Der Untergrund besteht dort aus Gestein, Sedimenten oder Erde, gemischt mit bis zu 70 Prozent gefrorenem Wasser. Teilweise sind die Böden wie im Norden Skandinaviens nur einige Meter tief vereist, teilweise reicht diese Schicht aber auch 1,6 Kilometer hinunter, so in Teilen Sibiriens. Von Permafrost sprechen die Forscher, wenn die Temperatur im Boden in mindestens zwei aufeinanderfolgenden Jahren unter null Grad liegt.
Direkt nach dem Ende der Eiszeit erwärmten sich auch die gefrorenen Böden, und der Permafrost zog sich nach Norden zurück. Dort und in den Hochgebirgen verharrte er dann über die letzten Jahrtausende ohne große Veränderungen. Das änderte sich in den 1990er Jahren – eine Folge des Klimawandels, bei dem die Oberflächen-Temperaturen in der Arktis nun doppelt so stark ansteigen wie im globalen Durchschnitt.
Nach Angaben der Potsdamer Forschungsstelle des Alfred-Wegener-Instituts (AWI) ist die Temperatur in den oberen Schichten des Permafrostbodens in einigen Gebieten bereits um etwa zwei Grad Celsius gestiegen. Doch auch in einer Tiefe von mehr als zehn Metern lässt sich die Erwärmung messen – im Schnitt waren es hier 0,3 Grad allein während der Jahre 2007 bis 2016.
Entsprechend schrumpfte auch die Ausdehnung der Permafrostböden – ihre Grenze hat sich in Russland und Kanada bereits um bis zu 100 Kilometer nach Norden zurückgezogen.
Das Tauen geht viel schneller als erwartet
Für das Klima birgt der gefrorene Boden zwei große Gefahren, die durch das Tauen aktiviert werden. Einmal geht es um die dort seit der Eiszeit konservierten riesigen Mengen an Biomasse aus abgestorbenen Pflanzen. Sie werden bei Erwärmung von den dann aktivierten Bodenbakterien zunehmend zersetzt, wobei die Treibhausgase CO2 und Methan entstehen.
Zudem kann das in manchen Regionen im Untergrund gespeicherte Gashydrat – ein gefrorenes Gemisch aus Wasser und Methan – bei Erwärmung regelrecht explodieren.
Das Potenzial für eine zusätzliche Erhöhung des Treibhauseffekts in der Atmosphäre ist groß. Denn im Permafrost sind rund 1,5 Billionen Tonnen Kohlenstoff gespeichert – etwa doppelt so viel, wie sich in der Atmosphäre befindet. Der größte Anteil davon, rund 70 Prozent, lagert dabei in den oberen drei Metern, also in Schichten, die besonders vom Auftauen gefährdet sind. Aber auch in Tiefen von bis zu 40 Metern befinden sich vermutlich beträchtliche Mengen, die klimarelevant werden könnten.
Jüngste Forschungen zeigen, dass das Tempo des Auftauens von den Modellen der Klimaforscher in der Vergangenheit stark unterschätzt wurde. So stellten eine Wissenschaftlergruppe um den Geologen Vladimir Romanowsky von der Universität Fairbanks in Alaska im vorigen Jahr fest, dass Dauerfrostböden in vielen arktischen Regionen Kanadas bereits viel stärker betroffen sind als erwartet.
Laut ihrer Studie ist dieser Prozess bereits so weit vorangeschritten, wie es in den aktuellen Modellierungsszenarien des Weltklimarats IPCC erst für das Jahr 2090 erwartet wurde. Es könne sein, dass der Kipppunkt, ab dem das Auftauen kaum mehr gestoppt werden kann, bereits überschritten sei, meinten die Experten.
Der führende deutsche Permafrost-Forscher, AWI-Sektionsleiter Guido Grosse, kommentiert: "Das übertrifft alles, was wir aufgrund unserer Klimamodelle erwartet hatten."
Ein Teil der Permafrostböden könnte abrupt auftauen
Grosse, der die Permafrost-Regionen seit 20 Jahren erforscht, verweist auf ein weiteres Phänomen: Die gefrorenen Böden tauen in vielen Regionen nicht kontinuierlich auf, sondern abrupt – dort, wo der Untergrund mit viel Eis durchsetzt ist. Der Untergrund sinkt ab, wenn das Eis schmilzt, und es bilden sich sogenannte Thermokarst-Seen, unter denen es besonders schnell weiter taut.
"Das Tauen unter den Seen passiert innerhalb weniger Jahrzehnte und kann sehr schnell tiefe Schichten erreichen", erläutert der Experte. Unter bestimmten Bedingungen – etwa bei einer starken Erwärmung oder veränderten Niederschlägen – könne das Tauen regional auch sehr plötzlich stattfinden.
Serie: Kippelemente
Werden die Kippelemente im Klima- und Erdsystem ausgelöst, kann es zu Kettenreaktionen kommen, durch die sich die Erderwärmung unkontrollierbar verstärken würde. Wissenschaftler haben 16 Kippelemente identifiziert, die sogar für ein Ende der menschlichen Zivilisation, wie wir sie kennen, sorgen könnten. Wir stellen sie in einer Serie vor.
Nach aktuellen Abschätzungen gilt rund ein Fünftel der Permafrostböden als gefährdet für ein solches abruptes Auftauen – und zwar ausgerechnet jene Regionen, in denen am meisten Kohlenstoff in der Erde lagert. Laut einer neuen Studie, an der der Potsdamer Experte beteiligt war, könnte die Menge an klimawirksamen Gasen, die durch das Permafrost-Tauen in die Atmosphäre gelangen, 40 Prozent höher sein als bisher angenommen.
Eine Analyse von Grosse und anderen Forschern zeigte 2019, dass bis 2100 rund 15 Prozent des leicht abbaubaren Kohlenstoffs aus den Permafrostböden in Form von CO2 oder Methan in die Atmosphäre gelangen dürften, wenn sich die Erde im bisherigen Tempo weiter erwärmt. Das würde die globale Durchschnittstemperatur bis 2100 um bis zu 0,27 Grad zusätzlich ansteigen lassen.
Da sich die Erdtemperatur seit der Industrialisierung schon um 1,1 Grad erhöht hat, käme allein dadurch das "Sicherheitslimit" von 1,5 Grad maximaler Erwärmung in Sicht, wie es im Pariser Klimaabkommen verankert ist.