Ein Klima-Argument gegen Erdgas ist, dass es ähnlich treibhauswirksam wie Kohle sei. Nicht nur setze Erdgas beim Verbrennen CO2 frei, sondern schon zuvor entweiche bei Förderung und Transport jede Menge Methan, der Hauptbestandteil des Erdgases.
Tatsächlich ist Methan ein starkes Klimagas und über die ersten 20 Jahre mehr als 80-mal klimawirksamer als CO2. Und wenn das Erdgas noch wie in den USA per Fracking aus dem Boden gebrochen, anschließend verflüssigt, nach Europa verschifft und wieder in Gas zurückgewandelt wird, muss das die Klimabilanz zusätzlich belasten.
Neuen Auftrieb erhält diese Kritik mit einem Gutachten des Hamburger Beratungsbüros Energycomment, erstellt im Auftrag der Ökoenergiegenossenschaft Green Planet Energy. Auf mehr als 50 Seiten beleuchtet der Report den "LNG-Boom in Deutschland" – so der Titel.
Was den Klimaeffekt des CO2 betrifft, geht Energycomment zunächst von der offiziellen Angabe des Umweltbundesamtes aus, wonach durch das Gasverbrennen in Industrie und Haushalten pro Kilowattstunde etwa 200 Gramm CO2 entstehen.
Hinzugerechnet werden die Mengen an Methan, die bei der Gasförderung und dem Pipeline-Transport zum Hafen entweichen, ferner der hohe Energieaufwand für die LNG-Verflüssigung, den Schiffstransport per fossilem Antrieb sowie die erneute Umwandlung zu Gas am Zielort.
Insgesamt habe LNG-Gas dann eine "tatsächliche Klimaschädlichkeit" von mindestens 300 Gramm CO2‑Äquivalent je Kilowattstunde, schreibt Energycomment. Das gelte sogar für überdurchschnittlich günstige Bedingungen.
Werde das Gas dann auch noch verstromt, steige wegen des Wirkungsgrades der Kraftwerke von etwa 50 Prozent die Klimawirkung auf mindestens 600 Gramm pro Kilowattstunde, heißt es in der Studie weiter.
Damit erreicht Flüssigerdgas nahezu das Emissionsniveau von Steinkohle. Bei deren Verstromung werden pro Kilowattstunde in der Regel etwa 700 Gramm CO2 oder sogar mehr freigesetzt. LNG-Importe seien deutlich klimaschädlicher, als offizielle Zahlen derzeit nahelegten, lautet denn auch das Fazit von Energycomment.
"Wenn Deutschland sich als Reaktion auf Ukraine-Krieg und russischen Gas-Importstopp mit Flüssiggas eindecken muss, sollte die Bundesregierung zumindest darauf achten, dass wir die LNG-Nutzung zeitlich wie mengenmäßig auf das absolute Minimum begrenzen", fordert Sönke Tangermann, Vorstand bei Green Planet Energy, angesichts der Analyse.
LNG-Planungen liegen weit über dem Bedarf
Diese bekräftigt auch Abschätzungen, wonach die im Aufbau befindliche LNG-Infrastruktur in Deutschland deutlich überdimensioniert ist. Laut Energycomment summieren sich die Kapazitäten der elf geplanten Terminals – acht schwimmende und drei an Land errichtete – künftig auf rund 80 Milliarden Kubikmeter Erdgas pro Jahr.
Die Hamburger Berater liegen damit noch über der jüngsten Studie des Kölner New Climate Institute, das die LNG-Kapazität im "Endausbau" auf 73 Milliarden Kubikmeter veranschlagt.
Der Umfang wegfallender russischer Erdgas-Importe nach Deutschland – hier geht es um 50 Milliarden Kubikmeter – werde jedenfalls bei Weitem übertroffen, betont Energycomment. Die ermittelten 80 Milliarden Kubikmeter könnten sogar den gesamten aktuellen Gasbedarf Deutschlands decken, heißt es weiter.
Dies wirke "stark überdimensioniert" angesichts des Terminal-Booms in den Nachbarländern, stabiler Pipeline-Importe aus Norwegen sowie einer steil sinkenden Gasnachfrage in den Klimaplänen der Bundesregierung.
Kritikwürdig finden die Hamburger Experten auch, dass die Regierung bislang keine aktuelle Bedarfsanalyse vorgelegt hat. Es bleibe daher etwas unklar, an welcher Nachfrage sich der LNG-Ausbau orientieren soll. Abwechselnd warnten Medien vor einem zu geringen oder zu weitgehenden Ausbau der Importkapazitäten, stellt die Studie fest.
Noch deutlicher als andere Ausarbeitungen macht der Energycomment-Report klar, dass die schwimmenden wie auch die Landterminals für flüssigen Wasserstoff grundsätzlich nicht geeignet sind. Ein Wechsel auf Wasserstoff erfordere einen fast vollständigen Neubau der aktuell geplanten Flüssigerdgas-Anlagen.
"Die Terminals sind trotz gegenteiliger offizieller Statements in keiner Weise 'Wasserstoff-ready'", erklärt Studienautor Steffen Bukold von Energycomment. Alternative Import-Verfahren, etwa auf Basis von Ammoniak, wären mit hohen Kosten und hohen Energieverlusten verbunden.
Europa kauft russisches Erdgas jetzt als LNG
Die Analyse von Energycomment stellt auch klar, dass die EU 2022 "wider Erwarten und unter dem Radar der meisten Medien" so viel russisches LNG wie nie zuvor importierte. "Anders als bei Öl oder Kohle gibt es bisher keine EU-Sanktionen gegen russische LNG-Importe", schreiben die Experten.
So habe Russland im Zeitraum von Januar bis November 2022 einen Anteil von 16 Prozent an den europäischen LNG-Importen gehabt. Das sei die zweite Stelle hinter den USA (42 Prozent), aber noch vor Katar (14 Prozent).
Die erste LNG-Tankerladung vom neuen russischen LNG-Terminal Portowaja sei dabei nach Griechenland gegangen. Portowaja liegt an der russischen Ostseeküste, direkt neben den mittlerweile stillgelegten Nord-Stream-Pipelines. Betreiber ist Gazprom.
Anders gesagt: Einstiges Nord-Stream-Erdgas kommt jetzt offenbar per Schiff nach Europa. Die weltweit größten Kunden von russischem LNG seien Japan, China und Frankreich, so das Gutachten.
Wer über LNG-Ladungen verfüge, mache seit Jahresbeginn 2022 traumhafte Gewinne, rechnet Energycomment schließlich vor. So habe Erdgas aus Pipelines bis 2021 um die 20 Euro je Megawattstunde gekostet. Bis auf das Zehnfache dessen seien dann die LNG-Preise in Nordwesteuropa im Laufe des Jahres 2022 gestiegen und nur selten unter das Fünffache des ursprünglichen Preises gesunken.
Kurzfristig komme Deutschland in der jetzigen Situation um LNG-Lieferungen nicht herum, räumt Green-Planet-Vorstand Tangermann ein. Um trotzdem nicht im fossilen Lock-in zu enden, müsse deutlich mehr Ambition auf Energieeffizienz, Erneuerbaren-Ausbau und heimische Wasserstoffproduktion gesetzt werden. Tangermann: "Der fossile Gasverbrauch muss so schnell wie möglich auf null sinken – das gilt für LNG wie Pipeline-Gas gleichermaßen."
Das Klima hätte sicher nichts dagegen.