Michael Müller. (Bild: Martin Sieber)

Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrats erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Michael Müller, als SPD-Politiker bis 2009 Parlamentarischer Staatssekretär im Umweltministerium, heute Bundesvorsitzender der Naturfreunde Deutschlands.

Klimareporter°: Herr Müller, der Klima-Projektionsbericht, den das Umweltbundesamt in Kürze veröffentlicht, dürfte verheerend ausfallen. Deutschland wird seine Klimaziele krachend verfehlen – sowohl für 2030 als auch 2045. Droht jetzt Fatalismus beim Klimaschutz, nach dem Motto: Wenn wir die Ziele ohnehin nicht mehr schaffen können, müssen wir uns auch nicht mehr anstrengen?

Michael Müller: Seit den Arbeiten von Joseph Schumpeter, speziell seiner Studie "Konjunkturzyklen", können wir wissen, dass tiefgreifende wirtschaftliche Umbrüche nur möglich werden, wenn frühzeitig eine entsprechende wirtschaftliche und gesellschaftliche Infrastruktur geschaffen wird. Dies umfasst verschiedene Bereiche – von der Bildung über den öffentlichen Sektor bis zu entsprechenden Finanzinstituten.

Das ist eng mit der Theorie der langen Wellen verbunden, für die frühzeitig die Voraussetzungen geschaffen werden müssen, um die wirtschaftlich-technische Entwicklung auf eine neue Basis zu stellen.

In den ersten beiden "Wellen" war Großbritannien mithilfe der Dampfmaschine, der Eisenbahn und der Dampfschiffe führend beim Ausbau einer industriellen Infrastruktur. Deutschland erlebte den Aufstieg in der dritten Welle mithilfe von Chemie, Elektrotechnik und Maschinenbau.

Heute sind wir am Beginn der "ökologischen Welle". Da geht es nicht nur um einzelne Technologien wie zum Beispiel die erneuerbaren Energien, sondern um eine umfassende Infrastruktur, die den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbau in allen Bereichen vorantreibt.

Das Gesetz für die Wärmepumpen hat gezeigt, dass eine derartige Infrastruktur, die auch die organisatorischen, sozialen und finanziellen Anforderungen einbezieht, fehlt. Insofern war das Gesetz auch unzureichend.

Mich stört, dass eine eindeutige politische Bewertung in der Klimadebatte kaum stattfindet. Aussagen wie "Klimaneutralität" oder "1,5-Grad-Ziel" können einer genaueren Bewertung nicht standhalten, sind aber zum Narrativ der ökologischen Debatte geworden.

Von daher geht es nicht um Fatalismus, sondern zuerst um eine realistische Betrachtung und dann um eine Antwort, die der Notwendigkeit einer umfassenden Reformstrategie gerecht wird.

Natürlich müssen wir uns viel mehr anstrengen, aber nicht mit Teilantworten, sondern mit einer tatsächlichen sozial-ökologischen Gestaltung der Transformation.

Beton galt lange als Baustoff der Zukunft. Auch das Auto war im 20. Jahrhundert ein Synonym für Fortschritt. Das eine wäre nicht ohne das andere erfolgreich gewesen. Beide zeigen aber auch, wie schnell Fortschritt und Modernisierung zum Problem werden können, schreibt der Stadt­soziologe Martin Gegner in einem Gastbeitrag für Klimareporter°. Wie schauen Sie auf die Allianz von Beton und Auto?

Die Mehrheit der Stellungnahmen in der Weltorganisation für Geologie zur Anthropozän-Frage geht davon aus, dass die "Great Acceleration" der 1950er und 1960er Jahre die Zeit der großen Beschleunigung war, seit der auch die ökologischen Schädigungen dramatisch zugenommen haben.

Zwölf sozial-ökonomische Megatrends mit weitreichenden Folgen für das Erdsystem gehen darauf zurück. Die "Große Beschleunigung" gilt als Beginn eines neuen geologischen Erdzeitalters, des Anthropozäns, in dem die Menschheit mit ihren wirtschaftlichen und technischen Möglichkeiten zum stärksten Treiber der Naturveränderungen aufgestiegen ist.

Entscheidend für das "Menschenzeitalter" sind neben Beton und dem mobilen Massenverkehr in der "autogerechten Stadt" etwa auch die Massenproduktion von Plastik oder die Freisetzung von Radioaktivität.

Tatsächlich ist die massenhafte Nutzung von Ressourcen ein zentraler Treiber für die Gefährdung des Erdsystems. Es geht beim ökologischen Umbau nicht nur um erneuerbare Energien, sondern prinzipiell um eine massive Reduktion menschlicher Eingriffe in die Natur. Das wird viel zu wenig beachtet. Auch ein E‑Auto ist noch lange nicht ökologisch verträglich.

Der Juli war global gesehen der bisher heißeste Juli seit Beginn der modernen Temperatur-Aufzeichnungen. Ins Bild passen Flutkatastrophen, die in Österreich, Slowenien und Kroatien enorme Schäden angerichtet haben, aber auch die extreme Dürre in Kenia. Geht der Klimawandel in eine neue Phase über?

Ich bin vorsichtig mit definitiven Feststellungen, ob das schon eine neue Phase ist, denn die Klimakrise hat ja schon vor Längerem begonnen.

Generell erleben wir seit Ende der 1980er Jahre eine Zunahme von Wetterextremen. Und wir müssen uns immer wieder vor Augen halten, dass die nähere Zukunft durch die Emissionen der letzten Jahre bereits programmiert ist. Aufgrund der Verweildauer der Treibhausgase in der Troposphäre werden sie noch längere Zeit das Klimageschehen bestimmen, auch wenn wir es schaffen sollten, sie zu stoppen.

Von besonderer Bedeutung ist, dass die Erderwärmung sich nicht gleichmäßig auswirkt, sondern die ökologisch sensiblen Regionen besonders trifft. Das bedeutet, dass die Hauptverursacher nicht die Hauptbetroffenen sind.

Das verschärft die Konflikte um die Klimakrise. Die Gefahr wächst, dass sich die grünen Oasen des Wohlstands von einer unwirtlich werdenden Welt abgrenzen.

Eigentlich ist das Umweltvölkerrecht sehr erfolgreich, sagt Franz Perrez, der frühere Schweizer Umweltbotschafter. Ob Chemikalien oder Klima, wenn die Länder etwas wollen, kann es erreicht werden, meint der Umweltjurist. Teilen Sie seinen Optimismus in Bezug auf das Völkerrecht?

Natürlich gehören auch das Umweltvölkerrecht und seine Verschärfung zu den notwendigen Instrumenten des ökologischen Umbaus. Aber mich irritiert die Aussage von Perrez, der sein Land ja auch auf vielen Weltklimagipfeln vertreten hat. Diese Klimakonferenzen sind doch ein Beispiel dafür, dass das Umweltvölkerrecht verletzt wird.

Obwohl seit dem ersten Klimagipfel 1995 in Berlin bekannt ist, dass ein konsequentes Handeln gegen die Klimakrise notwendig ist, sieht die Wirklichkeit völlig anders aus. Auf diesen Konferenzen, die einen eindeutigen rechtlichen Auftrag haben, wird geblockt und gemauert, damit das Notwendige nicht getan wird.

 

Und was war Ihre Überraschung der Woche?

Die Ankündigung der schwedischen Regierung, bis 2045 einen Ausbau der Atomenergie im Umfang von zehn konventionellen Kraftwerken voranzutreiben. Die historische Lektion aus Tschernobyl und Fukushima ist offenbar nicht gelernt worden.

Was wohl Greta Thunberg dazu sagt? Vielleicht sollte sie vorher die DIW-Studie zur Atomenergie lesen, die zu einem vernichtenden Urteil über die Atomfreunde kommt.

Fragen: Jörg Staude

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