Straßenbild
Die Klimabewegung kämpft für 1,5 Grad und die Wissenschaft warnt vor den Folgen bei einem Überschreiten dieser Grenze. Doch glaubt kaum noch wer daran, dass wir das Ziel wirklich erreichen können. (Foto: Jonathan Knodel/FFF Deutschland/Flickr)

Das sich schließende Fenster – in dem sechsten Bericht des Weltklimarates wird dieses Bild abermals bemüht. "Das Zeitfenster, in dem eine lebenswerte und nachhaltige Zukunft für alle gesichert werden kann, schließt sich rapide", schreiben die Autor:innen.

Das malt zwar nicht gerade ein hoffnungsvolles Bild, aber es bedeutet auch: 1,5 Grad sind immer noch möglich.

Der frischgebackene Präsident der nächsten Weltklimakonferenz COP 28 in Dubai, Sultan Al Jaber, betont Rede um Rede, dass die Welt das 1,5-Grad-Ziel nicht aufgeben soll. Ob das mehr Schein als Sein ist, wird sich auf der Konferenz im Dezember zeigen.

Es verdeutlicht aber eines: Auf der internationalen Bühne wagt bisher niemand, das 1,5-Grad-Ziel zu verwerfen. 195 Nationen haben das Pariser Klimaabkommen unterzeichnet. Damit haben sie die Verpflichtung, den Anstieg der globalen Durchschnittstemperaturen seit der vorindustriellen Zeit auf deutlich unter zwei Grad und idealerweise auf 1,5 Grad zu begrenzen.

1,5 Grad ist seit diesem Abkommen eine historische Größe und ein Symbol für Klimaschutz. Aktivist:innen stützen ihre Forderungen auf diese Zahl, Wissenschaftler:innen warnen vor ihrem Überschreiten und Politiker:innen wiederholen sie mantraartig in ihren Wahlversprechen. Kein Land will als erstes vor diesem Ziel kapitulieren, zumindest nicht öffentlich.

Das gilt nicht nur international, sondern auch in Deutschland. Jede demokratische Partei hat sich zum 1,5-Grad-Ziel bekannt. Kurz nach der Veröffentlichung des Weltklimaratsberichts sagte Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne): "Es ist weiterhin möglich, die 1,5 Grad in Reichweite zu halten, wenn wir in den nächsten sieben Jahren die globalen Emissionen halbieren. Die Menschheit hat das nötige Wissen, die passenden Technologien und auch die finanziellen Mittel".

IPCC-Autor:innen glauben nicht mehr an 1,5 Grad

Aber nur weil etwas möglich ist, ist es noch lange nicht realistisch. Laut einer anonymen Umfrage von Nature unter IPCC-Autor:innen aus dem vorletzten Jahr waren sechs von zehn der Wissenschaftler:innen der Ansicht, dass sich die Welt bis Ende des Jahrhunderts um mindestens drei Grad erwärmen wird. Weniger als fünf Prozent hielten die Einhaltung des 1,5-Grad-Limits für wahrscheinlich.

Was denken die bekanntesten Klima-Stimmen aus Deutschland heute? Ist "1,5 Grad" noch realistisch? Klimareporter° hat nachgefragt.

Politiker:innen klare Aussagen zu dieser Frage zu entlocken, ist nicht einfach. Ebenso wie Annalena Baerbock belässt es auch das grün geführte Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz bei der Erwähnung des Weltklimaratsberichts und einigen Floskeln: "Für uns ist klar, dass wir beim Klimaschutz nicht an Tempo verlieren dürfen. Das Gegenteil ist der Fall, wir müssen eher zulegen."

Überraschend zuversichtlich gibt sich der klimapolitische Sprecher der FDP, Lukas Köhler. Er sei optimistisch, dass das Ziel erreicht werde. "Das Gute ist: Wir kennen die Technologien, mit denen es möglich ist. Und wer weiß, was in Zukunft noch alles erfunden wird", erklärt er.

Köhlers Hoffnung liegt dabei, ganz gemäß der FDP-Denkschule, auf Marktmechanismen, auf "regenerativen Kraftstoffen wie E-Fuels" und Technologien zur CO2-Abscheidung und -Speicherung.

Pessimistischere Worte ertönen aus der Opposition. Man müsse die üblichen Routinen in Parlamenten, Medien und Wirtschaft durchbrechen, sagt Heinrich Strößenreuther, CDU-Politiker und Mitbegründer der Klima-Union. Sollte das nicht gelingen, komme die Wahrscheinlichkeit, das 1,5-Grad-Ziel einzuhalten, einem "Sechser im Lotto" gleich. Was mit dem beinahe revolutionär anmutenden "Durchbrechen" gemeint ist, lässt Strößenreuther offen.

"Kein Ziel, sondern ein physikalisches Limit"

Auch Vertreter:innen der Wirtschaft scheuen sich vor konkreten Antworten. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) will sich erst gar nicht äußern. David Radermacher, Leiter der Nachhaltigkeitsabteilung von Eon, betont, wie ernst es dem Energiekonzern mit dem 1,5-Grad-Ziel sei, und ergänzt den etwas substanzarmen Satz: "Die Herausforderungen sind enorm und es braucht einen gemeinsamen Kraftakt."

Christoph Bals, Geschäftsführer der Umweltorganisation Germanwatch, scheint schon die Frage zu stören und er stellt erst mal klar: "1,5 Grad ist kein Ziel, sondern ein physikalisches Limit. Jenseits davon drohen die Risiken der Klimakrise unüberschaubar zu werden."

Und auf die Frage, ob er die Erreichung des Ziels noch für realistisch halte, sagt Bals: "Gegenfrage: Ist es realistisch, sehenden Auges die Grundlagen der menschlichen Zivilisation einem massiven Härtetest mit fraglichem Ausgang auszusetzen?"

Bals schiebt allerdings nach: Wenn die Welt nicht schnell eine Antwort auf die Profitmaximierung von fossilen Öl- und Gasstaaten wie -unternehmen finde, sehe er "sogar das Zwei-Grad-Limit bald außer Reichweite".

Ganz und gar für begraben scheint Mojib Latif, Professor an der Uni Kiel und am dortigen Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung, die 1,5-Grad-Grenze zu halten. "So gut wie ausgeschlossen" ist das Erreichen des Ziels für den Klimaforscher. "Es zählen für die globale Erwärmung nur die weltweiten Treibhausgasemissionen, und die sind auch 2022 wieder gestiegen."

Latif, der seit 2017 auch Präsident des deutschen Flügels des Club of Rome ist, äußert schon seit vielen Jahren Zweifel am 1,5-Grad-Ziel.

Soziale Kipppunkte zur Dekarbonisierung

Nicht ganz so düster klingt da der Klimaforscher Wolfgang Lucht. Er selbst hat an zahlreichen IPCC-Berichten als Ko- und Leitautor mitgewirkt. Es werde schwieriger, "weil wir 30 Jahre viel zu wenig gemacht und das Problem verdrängt haben", sagt er.

Hoffnung lege er aber in die Fähigkeit der Gesellschaft, ihr Verhalten zu verändern. Sobald der Energieverbrauch nicht mehr weiter wachse – und davon gehen alle ökonomischen Modelle aus – werde Klimaschutz auch wesentlich einfacher.

Lucht: "Am Ende kommt's inzwischen darauf an, ob es so was wie soziale Kipppunkte hin zu Dekarbonisierung geben könnte."

Ein Rennen um die Kipppunkte. Erreichen wir zuerst die sozialen Kipppunkte und steuern dieses ganze Schiff noch um? Oder reißen wir die 1,5 Grad und auch gleich die zwei Grad und überschreiten damit Kipppunkte in unserem Klimasystem mit potenziell katastrophalen Folgen?

Denn, und das muss man sich immer wieder vergegenwärtigen, die im Paris-Abkommen festgeschriebenen Temperaturziele sind nicht willkürlich gewählt. Sie waren zwar Ergebnis politischer Verhandlungen, basieren aber auf wissenschaftlichen Fakten.

Schon bei zwei Grad globaler Erwärmung sterben doppelt so viele Wirbeltier- und Pflanzenarten aus wie bei 1,5 Grad. Zahlreiche Kipppunkte liegen nach dem Stand der gegenwärtigen Forschung jenseits der 1,5 Grad Erwärmung. Dazu gehört etwa das komplette Abschmelzen des Grönlandeisschilds.

Ob realistisch oder nicht: Das Ziel darf nicht fallengelassen werden

Auch deshalb scheinen sich beinahe alle Befragten einig: Das 1,5-Grad-Ziel – ob realistisch oder nicht – darf nicht aufgegeben werden. Nur Mojib Latif sieht das anders. Etwas mehr "Ehrlichkeit in der Kommunikation" fände er wünschenswert. "Das Festhalten an der 1,5-Grad-Marke in der öffentlichen Kommunikation kann zu Unverständnis, Angst und auch Fatalismus führen. Alles Hemmnisse für einen zielführenden Diskurs."

Ganz entschieden anders die Einschätzung von Wissenschaftskollege Lucht und Germanwatch-Chef Bals. Es sei eine "völkerrechtlich sehr wichtige Grenze, die für gerichtliche Prüfungen und Schadensersatz extrem relevant ist", sagt Christoph Bals. Und Wolfgang Lucht befürchtet, dass mit dem Abrücken von den 1,5 Grad alle Ziele unverbindlich und politisch angreifbar würden.

Lucht: "Es geht jetzt nicht darum, die Ziele den Realitäten anzupassen – sondern anzuerkennen, dass die Realitäten uns sehr schnell einholen werden, ökologisch und ökonomisch, wenn wir nicht ernsthaft daran arbeiten, ambitionierte Ziele doch noch zu erreichen."

Die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels ist noch möglich. Wirklich daran zu glauben scheinen nur noch die Wenigsten. Und doch schimmert bei einigen noch Hoffnung durch. Für manche liegt diese in neuen Technologien, für andere in gesellschaftlichen Kipppunkten.

So oder so, es lohnt sich, um jedes Zehntelgrad zu kämpfen. Oder wie Mark Howden, Vizechef des Weltklimarates, kürzlich in einem Interview sagte: "Wir müssen das Narrativ von 'das können wir nicht tun' umkehren in 'wir können es uns nicht leisten, das nicht zu tun'."

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