Hier ist Michael Müller zu sehen, SPD-Vordenker und Mitglied des Kuratoriums von Klimareporter.
Michael Müller. (Foto: Martin Sieber)

Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrats erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Michael Müller, als SPD-​Politiker bis 2009 Parlamentarischer Staatssekretär im Umweltministerium, heute Bundesvorsitzender der Naturfreunde Deutschlands.

Klimareporter°: Herr Müller, am gestrigen Samstag haben US-Medien, nachdem die Stimmen in Pennsylvania ausgezählt waren, Joe Biden zum nächsten Präsidenten der USA erklärt. Wie geht es dort nach der Wahl mit dem Klimaschutz weiter?

Michael Müller: Das Kernproblem bleibt: Welche Antwort gibt eine linke oder zumindest linksliberale Politik auf die großen Umwälzungen und Gefahren unserer Zeit? Wie sieht die Alternative zu einem autoritär-technokratischen Herrschaftsmodell aus?

Die Frage stellt sich auch nicht nur an die USA, sondern auch bei uns in der EU und in Deutschland. Das Anthropozän, das Zeitalter der Menschenwelt, macht den grundlegenden Perspektivwechsel noch drängender.

Ein ökologischer New Deal macht – anders als ein nur ökologischer Deal – eine weitergehende "Disziplinierung wirtschaftlicher Freiheit" (Franklin D. Roosevelt) notwendig, nämlich eine soziale und ökologische Disziplinierung. Der ökologische New Deal muss von den Tragfähigkeitsgrenzen des Erdsystems ausgehen. Das erfordert eine radikale Kehrtwende.

Wie soll die möglich werden? Und selbst wenn die Demokraten in den USA dafür wären, sind die Mehrheitsverhältnisse in Senat und Kongress unterschiedlich.

Wenn Donald Trump mit dem dümmlichen Satz, dass die Wahl Bidens in den USA die Tür zum Sozialismus öffnet, fast die Hälfte der Bevölkerung hinter sich bekommt, dann kann ich mir nicht vorstellen, wie in diesem zerrissenen Land eine durchgreifende Gestaltung einer ökologischen Transformation möglich wird. Die ist aber notwendig.

Außerdem gehört zu den dramatischen Merkmalen der Klimakrise, dass die Folgen der Erderwärmung lange Zeit nicht die Hauptverursacher treffen. Selbst die Bürgerinnen und Bürger von Los Angeles werden sich noch einige Zeit vor dem "feuchten Kuss" des Pazifiks schützen können, auch wenn es auf Dauer keine geschützten grünen Oasen der Sicherheit in einer ökologisch unwirtlichen Welt geben kann. Umso größer wird die Gefahr von Gewalt und Ausgrenzung.

Klar ist: Donald Trump hat keine wertebasierte Politik gemacht, obwohl er die amerikanischen Werte für sich in Anspruch genommen hat, ja sie sogar sie durch seine Politik zu erneuern behauptet hat. Trump hat die üblen Seiten des kleinbürgerlichen Stammtischs zur Politik gemacht und dafür Vorurteile und Stimmungen angeheizt. Das war schrecklich und abstoßend.

Bei Joe Biden ist zu erwarten, dass er wenigstens die Tür für den Klimaschutz öffnet und auch den Wiederbeitritt zum Paris-Abkommen in Gang setzt. Das ist ein Schritt, aber längst nicht das Notwendige.

Die Umweltbewegung muss dafür kämpfen, dass der Schutz des Erdsystems ein integraler Bestandteil der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik wird. Und damit sollten wir schnell bei uns im eigenen Land und in Europa anfangen. Im Anthropozän gibt es keine Alternative.

Nicht nur private Solaranlagenbesitzer kritisieren die derzeit im Bundestag beratene EEG-Novelle, auch Gewerbetriebe mit eigener Ökostromerzeugung befürchten ab 2021 eine Vollbremsung beim Solarausbau, wenn auch kleinere Anlagen in die Ausschreibung müssen. Die SPD im Bundestag hat angekündigt, dass sie die Novelle zu einem "großen Wurf" machen will. Was wäre für Sie ein großer Wurf?

Wesentliche Anstöße für das EEG, das Erneuerbare-Energien-Gesetz, kamen vor 20 Jahren von ökologisch engagierten Umweltpolitikern im Bundestag, einigen ökologischen Vereinigungen und dem Glücksfall Wolfhart Dürrschmidt im Bundesumweltministerium, das für die erneuerbaren Energien damals zuständig war.

Anfangs war das EEG nicht nur die Einsicht in das Notwendige, sondern auch ein "Motivationsgesetz". Es war ein Antrieb mitzumachen, nicht wie heute ein technokratischer Ansatz, der kräftige Anleihen beim Neoliberalismus genommen hat.

Doch in den 20 Jahren haben sich immer stärker Lobbyisten und Interessengruppen eingemischt. Die weitere Entwicklung des Gesetzes wurde mehr und mehr ideologisch-technokratisch bestimmt.

Aus meiner Sicht müssen wir zurück zu den Überlegungen der Anfangszeit. Das Gesetz sollte auch wieder raus aus den Zwängen des Bundeswirtschaftsministeriums. Da gehört es nicht hin. Und es muss vor allem die dezentralen Partizipations-, Beteiligungs- und Genossenschaftsansätze stärken statt neoliberale Ausschreibungsmodelle und kurzfristige Verwertungsinteressen.

Der Weltbiodiversitätsrat IPBES warnt vor weiteren Pandemien. Vermeiden lasse sich dieses Szenario nur, wenn Politik und Wirtschaft beim Natur-, Umwelt- und Klimaschutz umsteuern, und zwar gleichzeitig und abgestimmt. Wie kann das geschehen?

Die Pandemie zeigt in erschreckender Weise der Widerspruch zwischen Wissen und Handeln und wie wenig Vorsorge beachtet wurde. Vor Covid-19 gab es die Coronaviren Sars und Mers, bei denen die Sterblichkeitsrate bei zehn Prozent beziehungsweise über 30 Prozent lag. Doch die damaligen Ausbrüche waren weit weg und wurden nicht besonders erst genommen.

Auch die Warnungen von verschiedenen Seiten, die es gab, wurden verdrängt, obwohl sogar der Bundestag 2012 über den notwendigen Schutz bei einer Corona-Pandemie debattiert hat. Bei Covid-19 war dann die anfängliche Relativierung einer Maskenpflicht letztlich darauf zurückzuführen, dass schlicht und einfach keine Masken vorrätig waren.

Nun aber breitet sich die Pandemie weltweit aus. Zudem ist der Ausbruch anderer Coronaviren-Pandemien denkbar. Die sozialen, ökologischen und gesundheitlichen Schutzschichten des Erdsystems werden immer dünner, auch durch die Zerstörung der Biodiversität.

Das heißt, die weitere Entwicklung der Welt, die immer schneller zu einer Einheit wird, macht aus kontrollierbaren Risiken schwer zu beherrschende Gefahren, die mit dem Schneller, Höher und Weiter des Wachstumskapitalismus eng verbunden sind.

Die materiellen Grundlagen der Moderne – das Irrtumslernen und der Wachstumsglaube – sind nicht zu halten. Sie müssen umgebaut und neu begründet werden. Zwei wichtige Voraussetzungen dafür sind die Leitidee der Nachhaltigkeit und die "Regionalisierung der Weltwirtschaft".

Die Rivalität zwischen China und den USA in Klima- und Umweltfragen gibt der EU die einmalige Chance, hier zu einem strategischen globalen Akteur zu werden. Kann die EU dem überhaupt gerecht werden?

Die Rolle der EU ist unklar, nicht nur in der Klima- und Umweltpolitik. Mit Sorge sehe ich beispielsweise, dass als Antwort auf das amerikanische Chaos in der öffentlichen Debatte vor allem die Forderung nach einer Stärkung der Militärmacht Europa erhoben wird. Das ist eine sehr bedrohliche Entwicklung.

Das klingt so einfach, aber wäre eine fundamental falsche Weichenstellung: Die Gleichsetzung von EU und Nato, die EU als Atommacht, eine massive Aufrüstung mit entsprechenden sozialen und ökologischen Verteilungskonflikten, Beendigung des Parlamentsvorbehalts, Anknüpfung an koloniale Traditionen et cetera.

Ich halte es für eine notwendige zentrale Weichenstellung, dass die EU eine sozial und ökologisch gestalterische Rolle in der Globalisierung einnimmt – statt der Anpassung an vorherrschende Denkweisen. Das fängt schon beim Verständnis von Europa an. Notwendig ist eine gesamteuropäische Perspektive.

Und die Leitidee der künftigen Rolle Europas in der Welt muss die Nachhaltigkeit sein. Europa als Kontinent der Nachhaltigkeit – damit können wir zeigen, wie eine friedliche und demokratische Welt aussieht, die soziale und ökologische Gerechtigkeit miteinander verbindet.

Und was war Ihre Überraschung der Woche?

Dass ein Donald Trump nach vier Jahren antisozialer und antiökologischer Politik der Ausgrenzung und Faktenverdrehung in den USA nur knapp daran gescheitert ist, erneut zum Präsidenten gewählt zu werden.

Fragen: Jörg Staude

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