Immer wieder sonntags: Unsere Herausgeber erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Michael Müller, als SPD-Politiker bis 2009 Parlamentarischer Staatssekretär im Umweltministerium, heute Bundesvorsitzender der Naturfreunde Deutschlands.
Klimareporter°: Herr Müller, nach 2003 haben wir nun schon wieder einen "Jahrhundertsommer", mit anhaltenden Hitzewellen, Dürre, Ernteausfällen, überhitzten Gewässern, Fischsterben. Wird das die Politik nun wachrütteln und zu mehr Anstrengungen beim Klimaschutz führen?
Michael Müller: Der Sommer 2018 zeigt, dass die Erderwärmung nicht zu einem "angenehmen Mittelmeerklima" in unseren Regionen führt, sondern zu einem Klimastress, der Mensch und Natur gewaltig unter Druck setzt, beim Menschen vor allem Kinder, Ältere und Schwangere.
Diese "Jahrhundertsommer" haben wir schon zweimal in unserem Jahrhundert folgenlos erlebt. Das hat viel damit zu tun, dass das vorherrschende Handeln in der Regel nur reaktiv ist und sich in der Kurzfristigkeit des Augenblicks verliert. Warum gibt es keine Sondersitzung des Bundeskabinetts, um den Klimaschutzplan 2050 endlich zu dem zu machen, was er sein müsste, um möglichst das Ziel einer Begrenzung der globalen Erwärmung auf 1,5 Grad Celsius zu erreichen?
Das Merkel-Prinzip, erst zu reagieren, wenn es gar nicht mehr anders geht, kann beim Klimawandel nicht funktionieren, denn der Anpassungsprozess bei den Treibhausgasemissionen braucht vier bis fünf Jahrzehnte. Aber offenkundig ist die Politik nicht fähig, in längerfristigen Perspektiven zu handeln.
Ich fürchte, selbst diese lang anhaltende Hitze, die vor allem auf die menschengemachten Veränderungen in der Chemie und Dynamik der Troposphäre zurückgeht, wird spätestens im Winter wieder vergessen sein. Zurück bleibt im Gedächtnis ein frühlingsloses Jahr mit hohen Sommertemperaturen.
Die Bekämpfung des Klimawandels stellt uns vor Herausforderungen, deren Konsequenzen die meisten Menschen nicht akzeptieren wollen. Im Zweifelsfall sind der SUV und der dreimalige Urlaub im Jahr wichtiger. Und die Politik glaubt, die notwendige Transformation den Wählern und Wählerinnen nicht zumuten zu können – eine schreckliche Demonstration politischer und gesellschaftlicher Verantwortungslosigkeit.
Interessanterweise ist die Klimakrise aber auch kein Thema für die Kritiker der Politik, die jetzt ein "Aufstehen" fordern.
Eine internationale Studie warnte in dieser Woche sogar vor einer "Heißzeit" mit Temperaturen, die dauerhaft um vier bis fünf Grad höher liegen als in vorindustrieller Zeit, und einem Meeresspiegelanstieg um zehn bis 60 Meter. Halten Sie das für ein realistisches Szenario?
Ja, und es ist auch nicht mal neu. Anfang der 1990er Jahre sagten die Klimaforscher bereits eine globale Erwärmung zwischen 2,5 und sechs Grad Celsius voraus – mit einer hohen Wahrscheinlichkeit für drei Grad. Das ist unter anderem dokumentiert in dem Bericht "Schutz der Erde" an den Deutschen Bundestag von 1990.
Der Anstieg des Meeresspiegels geht sicher schneller als damals prognostiziert, unwahrscheinlich ist das nicht, zumal die Szenarien in den letzten Jahren öfter nach oben korrigiert wurden. Hinzu kommen viele Unsicherheiten, die die Prozesse beschleunigen können. Warnungen sind berechtigt.
Interessant ist, dass sich viele Wissenschaftler in den letzten 30 Jahren "radikalisiert" haben. Waren sie bei den politischen Konsequenzen am Anfang der Debatte noch zurückhaltend, sind sie heute sehr besorgt über das Versagen der internationalen Klimaschutzpolitik. Leider zu Recht.
In Niedersachsen und Bayern gibt es Bestrebungen, den Klimaschutz in den Landesverfassungen zu verankern. Sollte das nach französischem Vorbild auch auf Bundesebene geschehen?
Wenn es dem Klimaschutz hilft, sollte der rechtliche Rahmen für Zivilklagen und politische Initiativen gestärkt werden. Allerdings ist ein Staatsziel Klimaschutz noch keine Antwort auf die Frage, wie die Agrar-, Energie- und Verkehrswende auszusehen hat. Die Atomenergie – die in Frankreich als klimaneutral angesehen wird – kann zum Beispiel für die Energieversorgung nicht die Lösung sein.
Wir müssen mehr Klarheit schaffen: Was wir brauchen, ist eine tiefgreifende soziale und ökologische Transformation, die aber mit der heutigen Wirtschaftsordnung und den heutigen Konsumformen nicht zu erreichen ist. Der globale Arbitragekapitalismus muss ebenso beendet werden wie die großen Ungleichheiten in der Verteilung von Reichtum und Vermögen.
Die Bundesregierung hat einen Steuerbonus für Elektroauto-Dienstwagen beschlossen. Er bevorzugt große, schwere Fahrzeuge. Dasselbe gilt für die neue Flottenverbrauchs-Regelung der EU, die auf deutsches Drängen auch die schwersten Hybridfahrzeuge zu Klimarettern macht – auf dem Papier. Hat sich die Autolobby wieder durchgesetzt?
Abgesehen davon, dass auch E-Autos noch keine Mobilitätswende sind, ist dieser Steuerbonus eine unangebrachte Förderung in die falsche Richtung. Er erinnert an das negative Beispiel der Dieselmotoren in großvolumigen SUVs. Das ist ein falsches Signal – zumal die großen, schweren Autos in der Regel Leasing-Fahrzeuge sind – nach dem Motto "dickes Auto, aber 'sparsamer' Motor". Dann kann der Besitzer beruhigt mit dem Vorstadtpanzer zum Bioladen fahren.
Übrigens wäre es interessant zu wissen, zu welchen Kosten die Firmen Regierungsfahrzeuge berechnen und verleasen. Genaueres Hinsehen ist angebracht.
Und was war Ihre Überraschung der Woche?
Dass trotz der Hitzesommer-Erfahrungen von der Bundesregierung kein Signal kam, den Klimaschutz ins Zentrum zu rücken. Die Häufung extremer Wetterereignisse hat ganz offensichtlich mit dem ungebremsten Treibhausgasausstoß zu tun – welche Schlussfolgerungen zieht die Politik für unser Land und in der EU? Ich habe dazu nichts gehört.
Fragen: Verena Kern