Blickt man ins türkisblaue Wasser des Crawford Lake, lässt sich kaum erahnen, was sich Wertvolles am Seeboden verbirgt. 60 Kilometer von Toronto entfernt in der kanadischen Provinz Ontario ist der See mit 2,5 Hektar zwar recht klein, aber er verfügt über eine besondere Eigenschaft: Das Wasser am Seeboden vermischt sich nicht mit dem an der Oberfläche, er ist ein meromiktisches Gewässer.

Klingt erstmal unspektakulär, ist es aber nicht. Denn so bleibt der Boden des Sees völlig isoliert vom Rest der Welt und kann eine Geschichte erzählen, nämlich die unseres Planeten und wie die Menschheit ihn rapide verändert hat.

 

So sieht das zumindest eine internationale Forschergruppe, die Anthropocene Working Group (AWG). Der Crawford Lake soll für die Geolog:innen, Archäolog:innen und Geisteswissenschaftler:innen der AWG als Beweis dafür dienen, dass wir uns seit 70 Jahren in einem "Menschenzeitalter" befinden. Sie wollen eine neue erdzeitgeschichtliche Epoche ausrufen: die des Anthropozäns.

Das Wort entstammt dem Griechischen, anthropos für Mensch und -zän von Altgriechisch kainos für neu und ungewöhnlich. Die AGW-Forscher:innen gehen davon aus, dass der Mensch einen so drastischen Einfluss auf die Erde gewonnen hat, dass er die Geschichte des Planeten unumkehrbar verändert und somit eine neue Epoche eingeläutet hat.

Bisher befinden wir uns auf der geologischen Zeitskala in der Epoche des Holozäns, und das schon seit dem Ende der Eiszeit vor 11.700 Jahren. Das Holozän hat der niederländische Chemienobelpreisträger Paul Crutzen schon im Jahr 2000 für beendet erklärt. Für ihn begann das Anthropozän mit der industriellen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts.

Crutzen schrieb: "Durch die anthropogenen CO2-Emissionen könnte das globale Klima für viele Jahrtausende erheblich von seiner natürlichen Entwicklung abweichen." Der Mensch selbst werde also zu einem geologischen Faktor.

Aber so einfach ist es nicht, eine neue Epoche einzuläuten. Normalerweise erforschen Geolog:innen planetarische Veränderungen, die vor Millionen oder sogar Milliarden von Jahren stattfanden. Der Mensch mit seinem Einfluss ist da nur ein Wimpernschlag in der Erdzeitgeschichte.

Seit 2009 suchen deshalb die Forscher:innen der AWG nach geologischen Beweisen für die neue Epoche und diskutieren vor allem die entscheidende Frage: Wann fiel der anthropozäne Startschuss? Oder wie die Geolog:innen sagen: Wo liegt der "Goldene Nagel"?

Die Suche nach dem "Goldenen Nagel"

Die Antwort auf diese Frage liefern Polareis, tropische Korallen, Torfmoore aus den Bergen oder Sedimente aus Gewässern, denn sie alle konservieren planetarische Veränderungen in ihren Gesteins- und Sedimentschichten. Die Forscher:innen suchten so auf allen Kontinenten nach Veränderungen, die sich eindeutig auf menschliches Handeln zurückführen lassen.

So auch in den Sedimenten des Crawford Lake. Das Wasser des Sees hat viel Kalzium und Karbonat. Wird es im Sommer warm, verbinden sich die Ionen und kristallisieren zu kleinen Kalzitkristallen, die wie Schneeflocken zum Boden des Sees rieseln. Da die Kalzitproduktion stark vom Klima beeinflusst wird, ist jede dieser Schichten so individuell wie ein Fingerabdruck.

Eisbohrkerne aus den Polarregionen verraten, was in früheren Jahrhunderten auf der Erde passierte. (Bild: Tristan Vankann/​AWI)

Jedes Jahr entsteht also eine neue Sedimentschicht, die erzählt, was zu der Zeit vor sich ging. Dabei erkannten die Forscher:innen um das Jahr 1950 eine rasante Veränderung.

Damit beginnt das Anthropozän nicht mit der Erfindung der Dampfmaschine und der einsetzenden industriellen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts, so wie von Crutzen vorgeschlagen. Damals begann zwar die intensive Nutzung fossiler Brennstoffe, aber nur in Europa.

Auf der Südhalbkugel ist davon nichts in den Sedimenten und Gesteinen zu erkennen. Was aber auf dem gesamten Planeten deutlich nachzuweisen ist: Plutonium 239, das bei oberirdischen Atomtests entsteht.

Die frühen Atomtests Mitte des 20. Jahrhunderts kontaminierten die Erde weltweit irreversibel. Damit markiert Plutonium den Zeitpunkt in der Erdgeschichte, seit dem die industriellen und sozioökonomischen Aktivitäten des Menschen beispiellos zugenommen haben, wodurch sich das Erdsystem gravierend verändert hat.

Eine Dynamik, die in der Wissenschaft auch "die große Beschleunigung" genannt wird und nicht nur auf Atomtests zurückzuführen ist: Der Crawford Lake erzählt auch von einem steigenden Verbrauch fossiler Brennstoffe, dem verstärkten Einsatz von Stickstoffdüngern und einem zunehmenden globalen Handel, der Pflanzen- und Tierarten über den Planeten verteilt hat.

Mit den 1950er-Jahren und der großen Beschleunigung haben die Forscher:innen ihren "Goldenen Nagel" gefunden – das eine plötzliche Ereignis, mit dem sich das Ökosystem global und abrupt verändert hat.

"Das Anthropozän stärkt hoffentlich das globale Bewusstsein"

Wie geht es nun weiter? Um das Anthropozän auch offiziell als neue Epoche deklarieren zu können, gibt es ein international anerkanntes Verfahren, festgelegt von der Internationalen Kommission für Stratigrafie. Die Kommission fordert einen belegbaren Beweis, also einen geografischen Ort, für den Beginn einer neuen Epoche. Das Forschungsteam musste deshalb aus seinen zwölf untersuchten Standorten einen Kandidaten für den "Goldenen Nagel" des Anthropozäns auswählen.

Ausgewählt hat sie den Crawford Lake. Am gestrigen Dienstag wurde der See offiziell von der Anthropocene Working Group vorgeschlagen. Das Gewässer hat nun drei Abstimmungsrunden zu durchlaufen. Als letzte Instanz muss die IUGS, die International Union of Geological Sciences der Unesco, zustimmen.

Jürgen Renn, Direktor des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte in Berlin-Dahlem, hofft, dass damit endlich das Zeitalter des Anthropozäns offiziell ausgerufen wird. Seit 2012 arbeitet sein Institut mit der AWG zusammen.

Das Anthropozän ist für Renn nicht nur etwas für Fans geologischer Zeitepochen, sondern "sollte auch ein Weckruf für Politiker sein", erklärt er. "Die Veränderungen, die wir ausgelöst haben, waren viel schneller als die Veränderungen bei früheren geologischen Übergängen. Das Anthropozän stärkt hoffentlich das globale Bewusstsein dafür, nicht nur in den Wissenschaften, sondern auch das politische und wirtschaftliche Bewusstsein."

Colin Waters, Vorsitzender der AWG, ergänzt: "Es zeigt, dass die Auswirkungen menschlicher Tätigkeit schnell zum Guten oder zum Schlechten verändert werden können. In dieser Hinsicht gibt es Hoffnung." Hoffnung darauf, dass die Menschheit das Ruder noch herumreißen kann. Dafür müsse aber systemisch und global gedacht werden. Und diese Perspektive liefert das Anthropozän.

Sollte die IUGS sich für den Crawford Lake entscheiden, wird der See zum "Goldenen Nagel" für eine neue erdzeitgeschichtliche Epoche. Eine kleine Messingplakette wird dann in Zukunft darauf hinweisen. Francine McCarthy von der AWG sagt voraus: "Dies wird ein Ort werden, an dem über den Einfluss des Menschen auf den Planeten diskutiert wird."