Sein Tonfall ist nüchtern, seine Worte hochbrisant: Oktober 2018, Oscar Temaru wirft Frankreich "nuklearen Kolonialismus" vor. Der frühere Präsident des französischen Überseegebiets Französisch-Polynesien sitzt im UN-Quartier in New York und sagt ins Mikro, er habe Frankreich vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag verklagt. Der Vorwurf: Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Temaru geht es um die Versuche mit Atombomben, die Frankreich jahrzehntelang in seiner Heimat durchgeführt hat – mit schweren, bisher kaum aufgearbeiteten Folgen.
Am 1. Juli 1966 trat Frankreich aus der Nato aus. Zu groß war der Regierung die Macht der USA in dem Militärbündnis. Am 2. Juli 1966 fand Frankreichs erster Atomtest auf dem Atoll Mururoa in Französisch-Polynesien statt.
Der Zeitpunkt legt nahe, dass es dabei nicht nur um die Erforschung von Atomwaffen ging, sondern auch um eine Ansage. Der Atompilz am Himmel stand symbolisch für ein Frankreich, das mitmischt in der Großmachtpolitik. Ein Frankreich, das Europa unabhängig machte von den US-Amerikanern.
"Es liegt mir am Herzen, zu sagen, wie sehr Frankreich den Dienst zu schätzen weiß, den Französisch-Polynesien uns erweist", sagte Präsident Charles de Gaulle noch im selben Jahr bei einem Besuch auf den Atollen. "Wir sichern hier den Frieden für ganz Frankreich. Polynesiens Zukunft kann großartig sein!"
"Weniger gefährlich als ein Fernseher"
Viele Inselbewohner beobachteten die erste Explosion gespannt. Warum auch nicht? Offiziell nannte Frankreich die Tests "weniger gefährlich als die Strahlung von Fernsehgeräten". Den Behörden zufolge waren die Versuche sauber. "Les essais sont propres."
Das Atomwaffenprogramm schuf außerdem Jobs mit Traumgehältern, Wohnanlagen, Freizeitangeboten. Viele Polynesier, zuvor vielleicht arme Bauern oder Fischer, zog es dorthin. Über die Jahre arbeiteten ungefähr 150.000 Menschen für das Programm.
Die niederländischen Sozialwissenschaftler Pieter de Vries und Han Seur haben mehr als 700 ehemalige Mitarbeiter des Testprogramms für ihre 2003 erschienene Studie "Mururoa und wir" befragt.
Die Ergebnisse zeichnen ein katastrophales Bild von der französischen Informationspolitik. Der Großteil, nämlich 73 Prozent der Befragten, wusste demnach bei der Einstellung nicht einmal, dass es bei ihrer neuen Tätigkeit um ein Atomtestprogramm gehen sollte. Mehr als 40 Prozent gaben an, dass sie in kontaminierten Zonen arbeiten mussten – oft ohne Schutzkleidung.
Insgesamt 193 Mal fanden in Polynesien Atomtests statt. In 46 Fällen wurde überirdisch getestet. Weltweite Wasserproben haben verraten: Bis nach Südamerika war der Fallout, der radioaktive Niederschlag, nachweisbar.
Zahlreiche Krebserkrankungen in der Region werden mit den umstrittenen Tests in Verbindung gebracht.
Absurde Entschädigungspraxis
1996 war Schluss. Nachdem Umweltschützer in Frankreich und in anderen Ländern massiv protestiert hatten – "Fuck Chirac!" –, beendete der Präsident das Atomtestprogramm. Was blieb, war die radioaktive Belastung in Polynesien. Und die Krankheiten.
2010 gab es ein Entschädigungsgesetz. Trotzdem erhielten wegen absurder Ausnahmeregelungen in dem Gesetz nur wenige Opfer Geld. Schilddrüsenkrebs beispielsweise wurde nur anerkannt, wenn er in jungen Jahren auftrat – ansonsten gingen die Betroffenen leer aus.
Erst im Jahr 2019 hat eine Reform das französische Parlament passiert, in der ausdrücklich auf die Atomtests und ihre Folgen hingewiesen und damit die Atomschuld formell anerkannt wird. Das bedeutet noch keine automatische Änderung der Entschädigungspraxis. Trotzdem ist der Beschluss historisch: Am 23. Mai 2019, ein halbes Jahrhundert nach ihrem Beginn, hörten die französischen Atomtests in Polynesien auf, sauber zu sein.