In seinem kürzlich erschienenen Buch "Beton – Massenkonstruktionswaffe des Kapitalismus"
behauptet der Philosoph Anselm Jappe, dass der Beton durch seine billige Verfügbarkeit und gleichzeitig geringe Haltbarkeit die "kapitalistische Logik" wie kein anderer (Bau-)Stoff verkörpere.

Zunächst einmal geht Jappe auf die Geschichte des Baustoffs ein, die über 10.000 Jahre zurückreicht. Schließlich besteht Beton hauptsächlich aus gebranntem Kalkstein, Sand und Wasser.

 

Mit der Verbreitung des kapitalistischen Prinzips auf dem Festland Europas in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte laut Jappe das gesteigerte Interesse für Beton ein. Denn Beton sei billiger herzustellen als Naturstein oder aus Lehm gebrannte Ziegel, und vor allen Dingen benötige die Verarbeitung keine qualifizierte (also "teure") Arbeit, sondern könne von billigen Hilfskräften vorgenommen werden.

Der entscheidende Schritt zum Universalbaustoff für Wolkenkratzer, Brücken mit großer Spannweite und Autobahnviadukte sei jedoch eine technologische Innovation gewesen: die Integration von Eisen- und Stahlelementen im Beton.

Dieser "armierte" Beton, oder Stahlbeton, der in tausenden Brücken und anderen Bauwerken verwendet wurde, habe jedoch ein gravierendes Manko, so Jappe: "Sofern nicht unverhältnismäßig hohe Summen zur Sicherung des Betriebs ausgegeben werden, wird die Haltbarkeit eines solchen Bauwerkes schon nach dreißig Jahren ein Problem."

Fortschrittliches Bauen mit Beton

Jappes Interpretation der kapitalistischen success story des Betons und seine Kritik sind im Allgemeinen sehr überzeugend. Sicher ließe sich einwenden, dass auch Plastik, mit der gleichen Verfügbarkeit und Allgegenwart sowie seinen katastrophalen Folgen für die Umwelt, als typisch kapitalistisches Produkt gelten könnte.

Zudem muss natürlich erwähnt werden, dass der Beton ab den 1950er Jahren auch im Städtebau der sozialistischen Sowjetunion und der DDR eine zentrale Rolle gespielt hat. Jappe erwähnt diese Tatsache kurz, um sie dann hintanzustellen und sich seiner Betrachtung der spezifisch kapitalistischen Karriere des Betons zu widmen.

Beton und Auto stehen für die Moderne und ihr Versprechen von technischem und sozialem Fortschritt. (Bild: Jonathan Borba/​Unsplash)

Auf den entscheidenden Unterschied zwischen Ost und West in der Verwendung des Stahlbetons geht Jappe nicht näher ein. Während im Osten in erster Linie der Wohnungsbau von den Segnungen des Betons "profitierte", ermöglichte der Baustoff im kapitalistischen Westen vor allem die Massenautomobilität.

Beide Phänomene wurden seinerzeit unter dem Banner des Fortschritts propagiert, unterstützt von der politischen Linken, wie Jappe nachzeichnet. Schon 1855 schrieb der sozialistische Utopist Charles Fourier über den Beton, dass "man mit wenigen Kosten die Verbesserung der Armenviertel bewerkstelligen könnte". Im 20. Jahrhundert sahen vermeintlich fortschrittliche Architekten, Stadtplaner und Politiker den Beton als Garant für "Wohnungen für alle".

Und so wurden, im Osten mehr als im Westen, riesige Neubauviertel nach den Maßgaben der städtebaulichen Moderne errichtet in einem weltweit weitgehend einheitlichen "International Style". Dabei stellten sich in den tropischen Ländern die klimatischen Bedingungen als ernstes Problem für den Beton heraus: "Das tropische Klima besiegte schnell den Beton."

In den Ländern des nördlichen Westens setzte man mehr auf – ebenfalls vorwiegend mit Beton errichtete – Einfamilienhaussiedlungen.

Gleichzeitig wurden seit den 1960er Jahren in der alten Bundesrepublik die Straßeninfrastruktur und die Autobahnen massiv ausgebaut. Die Forderung nach "Automobilität für alle" galt in den siebziger Jahren als ebenso progressiv wie das Lied "Autobahn" der Gruppe Kraftwerk (bei dem man sich bis heute darüber streiten kann, ob es apologetisch oder kritisch gemeint ist).

Zur funktional getrennten Stadt gehört das Auto

Betrachten wir den (Stahl-)Beton also in seiner Funktion für den Straßen- und Brückenbau: Auf die verheerende Wirkung der "Erfindung" des Spannbetons beim Brückenbau in den 1960er Jahren geht auch Jappe ein. Der Einsturz der Spannbetonbrücke von Genua im Jahr 2018 ist ihm sogar Ausgangspunkt seiner hellsichtigen und informativen Überlegungen.

Immer wieder kommt er auch darauf zu sprechen, dass die Freunde des Betons gleichermaßen Befürworter einer rasanten Massenautomobilisierung waren (und sind). Der Schweizer Architekt, Betonfan und Fetischist des rechten Winkels Le Corbusier hatte bereits in seinem Buch "Urbanisme" (deutsch "Städtebau") von 1925 darauf hingewiesen, dass die Straßenführung in den zukünftigen Städten dem damals neuen Automobil anzupassen sei.

In der sogenannten Charta von Athen, die in weiten Teilen bereits 1933 geschrieben, aber als solche erst 1941 mitten im Krieg veröffentlicht wurde, beschäftigten sich die Autoren, modernistische Architekten unter der Führung Le Corbusiers, neben der Etablierung von "Wohnmaschinen" zur Massenunterbringung der arbeitenden Klassen vor alle Dingen mit der Neugestaltung von funktional getrennten Städten, in denen die Zonen für Arbeiten, Wohnen und Freizeit räumlich weit auseinander liegen. Als Verbindungselement zwischen diesen Zonen kommt der Automobilität die entscheidende Rolle zu.

Foto: David Außerhofer

Martin Gegner

ist als Politologe und Stadt­soziologe Mitglied der Forschungs­gruppe "Digitale Mobilität und soziale Differenzierung" am Wissenschafts­zentrum Berlin für Sozial­forschung (WZB). Zuvor war er an verschiedenen Wissenschafts­insititutionen sowie als Gast­professor in São Paulo und Istanbul tätig.

Auf den flow des Autoverkehrs wurde in den Manifesten des städtebaulichen Modernismus größtes Augenmerk gelegt. Das freie Fließen der Autos, ungestört von Kreuzungen, Ampeln, Fußgängern, Radfahrern und Kindern, sollte durch Brücken, Viadukte, Tunnel und Hochtrassen erreicht werden, gebaut mit Beton. Die freie Automobilität hatte Priorität vor allem anderen.

Nach dem Krieg wurde die Charta von Athen zur Blaupause für den Wiederaufbau der zerstörten europäischen Städte nach amerikanischem Vorbild. Hier hatte man bereits Mitte der 1920er Jahre begonnen, sogenannte freeways, mehrspurige Autobahnen, durch die Zentren der Metropolen zu schlagen und die Suburbanisierung, den Wegzug der begüterten Bürger in die Vororte, zu forcieren.

Die Idee des modernen Städtebaus basierte, wie Jappe richtig ausführt, auf Beton. Aber eben genauso auf Automobilität. Dieser Faktor kommt bei ihm zu kurz. Denn die Errichtung von schlecht gebauten, auf kurze Lebensdauer ausgerichteten Wohnhäusern in den Peripherien der Städte ist das eine, die Formierung des öffentlichen Raums zum reinen Verkehrsraum das andere.

Diese Funktion übernimmt das Auto. Darauf hatten Andreas Knie und Lutz Marz vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) schon 1998 hingewiesen. Wenn also der Beton die "Massenkonstruktionswaffe" des Kapitalismus ist, dann ist das Auto seine "Massenmobilitätswaffe".

Auch der aktuell proklamierte Fortschritt braucht Kritik

Was heißt das für die Mobilitätsforschung? Mobilität, auch Automobilität, ist kein isoliertes gesellschaftliches Phänomen und deshalb auch nicht als solches zu betrachten.

Stattdessen muss auf die funktionelle Kopplung des Autos vor allem mit bestimmten Wohn- und Siedlungsformen – auf dem Land, in der Peripherie, generell in den öffentlich unterversorgten Raumtypen – hingewiesen werden. Das heißt, die Mobilitätsforschung muss sich stärker als bisher mit dem Städtebau und mit der Raum- und Regionalplanung beschäftigen.

Das Buch

Anselm Jappe: Beton. Massen­konstruktions­waffe des Kapitalismus. Mandelbaum Verlag, Wien 2023. 160 Seiten, 20 Euro

Und schließlich sollte sich, und hier ist Jappes Buch ein gutes Beispiel, die sozialwissenschaftliche Mobilitätsforschung auch einen Schuss Kapitalismuskritik gönnen. Denn sowohl hinter der Wirtschaftspolitik mit ungebrochener Förderung der Autoindustrie als auch hinter der Subventionierung des automobilen Lebensstils stecken nicht nur in Deutschland Kapitalinteressen.

Und das bezieht sich auch auf die Produktion von Elektroautomobilen. Wer von der zerstörerischen Automobilität spricht, darf nicht vom Kapitalismus schweigen.

Gleichzeitig lehrt die Geschichte des angeblich so fortschrittlichen Betons, dass sich die Wissenschaft immer auch der Kritik des aktuell proklamierten Fortschritts widmen muss. Denn was heute progressiv und alternativlos erscheint, könnte sich morgen als fataler Irrtum erweisen.

Erst die Kritik des Fortschrittsparadigmas des 20. Jahrhunderts – die erst auf dessen Höhepunkt in den 1970er Jahren einsetzte – hat die Klimaschutzbewegung und eine mit ihr verbündete Wissenschaft ermöglicht. Die (wissenschaftliche) Kritik sollte daher auch vor den heute verhandelten Technologien nicht haltmachen.

Redaktioneller Hinweis: Andreas Knie vom WZB ist Mitglied des Herausgeberrats von Klimareporter°.

 

Digitale Mobilität – das Antiblockiersystem

Wie kommen wir in Zukunft von A nach B? Fest steht: Es geht nur radikal anders als bisher. Aber wie? Die Gruppe "Digitale Mobilität – das Antiblockiersystem" entwickelt Ideen für die Mobilität von morgen. Hier schreiben Wissenschaftler:innen und Expert:innen über Wege in ein neues Verkehrssystem, das flüssig, bequem, gerecht und klimafreundlich ist – jenseits von Allgemeinplätzen und Floskeln. Das Dossier erscheint in Zusammenarbeit mit dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Die Beiträge erscheinen zugleich im WZB-Blog der Forschungs­gruppe Digitale Mobilität.