Viele Einweg-Wasserflaschen aus Plastik in einem Fischernetz.
"Einwegflaschen sorgen für sicheres, sauberes Wasser": Markus Steilemann sieht die Produkte seiner Branche naturgemäß positiv. (Bild: Matthew Gollop/​Pixabay)

Klimareporter°: Herr Steilemann, in den Weltmeeren gibt es riesige Strudel aus Plastikmüll, Mikroplastik findet sich sogar im Eis der Arktis. Hierzulande kämpfen die Kommunen mit Müllbergen aus To-go-Verpackungen. Wie viel Schuld trägt die Chemieindustrie daran, dass ihr Image so schlecht ist?

Markus Steilemann: Die Debatte wird leider oft etwas einseitig geführt. Wir bei Covestro und in der Chemieindustrie allgemein sind der Auffassung: Kunststoffe sind entscheidend für ein nachhaltiges und gesundes Leben.

Beispiel: Kein Windrad, keine Photovoltaikanlage, keine E‑Auto-Batterie würde ohne Chemie funktionieren. Oder: Kunststoffe im Verpackungsbereich erhöhen die Lebensmittelhaltbarkeit und -sicherheit. Allerdings gibt es auch Nachteile, das ist vollkommen klar. Aber wir glauben, dass sich die Probleme lösen lassen.

Bisher ist zu wenig an Recycling-Optionen gearbeitet worden. Das betrifft sowohl das Design von Kunststoffen, damit sie gut wiederverwertbar sind, als auch die Wiederverwertungskapazitäten.

All das kann man als Schuldfrage adressieren, man kann es aber auch als Auftrag an die Gesellschaft und die Kunststoff-Unternehmen sehen, sich diesem Thema zu stellen. Die Schulddebatte hilft hier nicht weiter, sie bringt keine Lösungen, und auf die kommt es an.

Die Vereinten Nationen streben für das kommende Jahr ein Plastikabkommen an, das die Probleme lösen soll. Doch die Verhandlungen dazu sind blockiert. Zuletzt, bei der vierten Runde in Ottawa, gab es null Fortschritt. Warum?

Erstmal ist es gut, dass es diese Verhandlungen gibt. Wir haben ein Problem mit einer gewaltigen, komplexen Dimension, das auch komplexe Antworten erfordert.

Die Verhandlungen werden allerdings durch überzogene Forderungen einiger Interessengruppen in Gefahr gebracht, Fokus und Tempo zu verlieren. Würden sie umgesetzt, würde das die Kunststoffindustrie massiv gefährden und die Transformation hin zur Kreislaufwirtschaft verhindern.

Verschiedene Akteure wollen den Einsatz von Kunststoffen und Vorprodukten in der Konsequenz faktisch verbieten. Zusätzlich würden alle Anwendungen im Rahmen des geplanten UN-Abkommens vorsorglich reguliert. Das geht zu weit und ist ineffizient.

Denn es gibt weltweit bereits Abkommen, die Chemikalien ausreichend regulieren, in der EU zum Beispiel die Reach-Verordnung, in den USA Tosca, den Toxic Substances Control Act.

Wer stellt denn die, wie Sie sagen, überzogenen Forderungen?

Diverse Nichtregierungsorganisationen, aber auch einige Staaten sehen konkrete Verbote vor. Auf der anderen Seite des Spektrums stehen erdölproduzierende Staaten, die um ihren Absatz fürchten. Hier eine gemeinsame Linie zu finden, ist schwierig.

Umweltorganisationen fordern neben Recycling auch eine Begrenzung der Produktion.

Das ist der falsche Ansatz. Wir haben Umweltprobleme, weil Kunststoffe nach der Nutzung nicht in ausreichendem Maß recycelt werden.

Produktionsbeschränkungen sind nicht das richtige Instrument, um das zu lösen. Man müsste dann Tausende von Anwendungen regulieren, und das in allen Staaten weltweit. Das ist nicht machbar.

Außerdem würde eine künstliche Verknappung auch hier, ähnlich wie bei der Energie, voraussichtlich zu höheren Preisen führen. Und das träfe besonders arme Länder und Bevölkerungsschichten. Es wäre hochgradig unsozial.

Laut Prognosen soll sich die Produktion von Kunststoffen weltweit bis 2060 verdreifachen. Klimafachleute rechnen vor, dass dann allein die Chemieindustrie einen Großteil des globalen CO2-Restbudgets aufbrauchen würde. Kein Problem?

Bisher ist der Anteil der Chemieindustrie relativ gering. Global verbraucht sie 14 Prozent der Erdöl- und acht Prozent der Erdgasmengen.

Man muss aber dagegenrechnen, dass damit wichtige Produkte hergestellt werden, oft auch solche, die enorme Mengen Energie einsparen. Ein gutes Beispiel sind Dämmstoffe, deren Komponenten wir herstellen. Sie sparen während der Nutzungsdauer bis zu 70‑mal mehr Energie ein, als bei der Produktion hineingesteckt wird.

Es bleibt ungelöst, dass eine so große Plastikproduktion das Budget sprengen würde. Außerdem sind viele Produkte nicht langlebig, sondern Einweg-Ware ...

Aber selbst die viel kritisierten Einweg-Getränkeflaschen haben für die Umwelt und die Menschen, die sie nutzen, eine positive Bilanz. In vielen Regionen in Entwicklungsländern machen sie es erst möglich, dass dort sicheres, sauberes Wasser genutzt werden kann. Man sollte so etwas nicht verbieten, solange es keine besseren Lösungen gibt.

Die Atmosphäre muss entlastet werden, um das Erwärmungslimit aus dem Pariser Klimavertrag von 1,5 bis zwei Grad Celsius noch zu halten. Ist das Ausfiltern von CO2 aus der Luft und seine Nutzung in Produkten ein Lösungsansatz? Ihr Unternehmen hat das getestet.

Foto: Covestro

Markus Steilemann

ist Vorstands­vorsitzender der Covestro AG und Präsident des Verbandes der Chemischen Industrie (VCI) sowie Vorstands­mitglied beim Welt­verband der Chemie­verbände ICCA. Covestro ging 2015 aus der Kunst­stoff­sparte von Bayer hervor, wo der promovierte Chemiker seit 1999 tätig war. 2023 erzielte der Konzern mit Sitz in Leverkusen einen Umsatz von mehr als 14 Milliarden Euro nach knapp 18 Milliarden im Vorjahr. Er entwickelt, produziert und vertreibt Polymer­werkstoffe an rund 50 Standorten in Europa, Asien und Amerika, darunter Komponenten für Schaum­stoffe, Beschichtungen und Lacke. 

Eins ist klar: Die Abtrennung von CO2, etwa aus Kraftwerken, und seine Endlagerung in unterirdischen Lagerstätten muss kommen. Wenn man sehr schnell große Mengen davon unschädlich machen will, ist das eine sehr gute Lösung.

In Norwegen und den USA etwa wird das schon gemacht. Es ist ja illusorisch, dass die Verbrennung von Öl, Kohle und Gas sofort gestoppt wird.

Längerfristig könnte aber auch die Nutzung von CO2, um daraus Produkte herzustellen, Sinn machen. Derzeit verbraucht dies aber noch zu viel Energie. Man würde, wenn man fossile Energie nutzt, den Teufel mit dem Beelzebub austreiben, und Ökoenergie ist derzeit noch sehr knapp.

Einer unserer Pilotversuche, einen Kunststoff unter CO2-Einsatz herzustellen, hat gezeigt: Die konkrete Technologie ist momentan zu ineffizient. Es gibt in der Produktherstellung weit günstigere Möglichkeiten, CO2-Emissionen einzusparen. Etwa durch Recycling oder die Nutzung von nachwachsenden Rohstoffen.

Welche Potenziale hat das Recycling? Ist eine geschlossene Kreislaufwirtschaft ohne Abfälle möglich?

Es gibt heute keine völlig verlustfreie Recyclingtechnologie. Wir bei Covestro versuchen aber, den Recyclinganteil deutlich zu erhöhen.

Produkte, die derzeit nicht klassisch, das heißt werkstofflich wiederverwertet werden können, sollen künftig chemisch aufgeschlossen werden. Für einige unserer wichtigsten Produkte, die Komponenten von Hart- und Weichschäumen, entwickeln oder erproben wir derzeit entsprechende Verfahren.

Dabei kommt es auch darauf an, die Produkte heute so zu designen, dass sie morgen einfacher sammel- und recyclingfähig sind. Hier setzen wir an. Das heißt zum Beispiel: möglichst nur einen Polymertyp im Produkt statt Mischungen und nur wenig Zuschlagstoffe verwenden.

Das heißt, die alte Matratze, die ich zum Sperrmüll stelle, wandert nicht mehr in die Müllverbrennung?

Genau. Wir haben in Projekten zusammen mit Partnern entlang der Wertschöpfungskette Prozesse entwickelt, in denen wir die zwei chemischen Kernbausteine, aus denen der Schaumstoff in der Matratze größtenteils besteht, wieder sortenrein zurückgewinnen können. Daraus lassen sich dann Matratzen herstellen, die qualitativ von Neuware aus Erdöl nicht zu unterscheiden sind. Das spart große Mengen Rohstoffe ein und senkt den CO2-Fußabdruck des Produkts – ein Beitrag zum Ressourcen- und Klimaschutz.

Welche politischen Rahmenbedingungen sind nötig, um zur Kreislaufwirtschaft zu kommen? Striktere Recyclingvorschriften, Steuern, Pfandsysteme?

Um die Kreislaufwirtschaft anzukurbeln, sind Einsatzquoten für die Nutzung von Recyclingkunststoffen notwendig, sodass sich alle Produzenten bewegen. Ebenso wünschenswert wäre, dass die öffentliche Hand bei der Beschaffung vorangeht. Denn sie hat durch ihre großen Beschaffungsmengen eine große Marktmacht und Leitfunktion.

Auch Pfandsysteme sind wichtig, etwa bei den Getränkeflaschen. Hier sollten die Pfandbeträge so angepasst werden, dass praktisch alles zurückgebracht wird – anders als heute, wo viele Flaschen weggeworfen werden und damit als Rohstoff verloren gehen.

 

Herr Steilemann, die wirtschaftliche Lage der Chemieindustrie ist schlecht. Es gab Umsatzeinbrüche, unter anderem wegen der verteuerten Energie nach dem Beginn des Ukraine-Kriegs. Wie sieht es aktuell aus?

Die Talsohle scheint durchschritten. Im ersten Quartal gab es quer durch die Branche positive Signale, die Produktion steigt wieder.

Für eine Entwarnung ist es aber noch zu früh, wir sind lange noch nicht wieder auf dem Niveau, auf dem wir vor der Corona-Krise waren. Die Kapazitäten sind nicht ausgelastet, der Umsatz ist unter Vorjahr.

Hinzu kommt: Die Gewinne deutscher Unternehmen werden überwiegend im Ausland wirtschaftet, nicht zu Hause. Deutschland ist für die meisten Firmen nach eigenem Bekunden tiefrot.

Was müsste geschehen?

Die strukturellen Probleme müssen endlich gelöst werden. Wir haben viel zu viel Bürokratie, vor allem aufgrund von EU-Vorschriften, die Verkehrs-Infrastruktur ist in vielen Bereichen marode, zu hohe Steuern schrecken Fachkräfte aus dem Ausland ab.

Und die Energiekosten sind im internationalen Vergleich immer noch zu hoch. Energie ist für unsere Unternehmen vier- bis fünfmal teurer als in den USA. Der Ausbau der erneuerbaren Energien läuft zu langsam.

Müssten Sie da nicht ein Fan von Grünen-Wirtschaftsminister Habeck sein, der Ihnen mit einem niedrigeren Industriestrompreis entgegenkommen wollte?

Herr Habeck ist als Minister exzellent gestartet, doch bei der Bewältigung der Krise schwächelt die gesamte Regierungskoalition und ist in ideologische Grabenkämpfe vertieft. Auf die Umsetzung sinnvoller Ideen wie den Industriestrompreis konnte sich die Bundesregierung daher leider nicht verständigen.

Hinzu kommt: Auf dem Strommarkt haben wir zu wenig Angebot an Erneuerbaren, während die Atomkraft zu früh aus dem Markt genommen wurde und der Netzausbau für die Ökoenergien zu langsam läuft. Es passt alles nicht zusammen.

Sie haben gefordert, die zuletzt abgeschalteten drei AKW weiterzubetreiben. Wäre das immer noch eine Option?

Ich war sehr enttäuscht, dass weder die letzte Regierung noch die Ampel das Thema angepackt hat. Ich bin der Meinung: Die politische Entscheidung, die Kernkraftwerke weiterzubetreiben, sollte getroffen werden. Wie das konkret jetzt noch möglich wäre, müssten die Betreiber klären.