Eine Steckdose, aus der Löwenzahn herauswächst.
42 Prozent Ökostrom kommen heute im Schnitt aus der Dose, 2035 sollen es an die 100 Prozent sein. (Foto: Colin Behrens/​Pixabay)

Russlands Krieg gegen die Ukraine verändert alles, nicht zuletzt die deutsche Energiepolitik. Die Folgen werden vermutlich einschneidender sein als andere Schocks wie die Ölkrisen der 1970er Jahre, die Klimadebatte seit den 1990ern oder die Atomkatastrophen von Tschernobyl 1986 und Fukushima 2011.

Der Bezug von Gas und Öl aus dem Putin-Land soll möglichst schnell heruntergefahren werden, es sollen LNG-Terminals für Flüssigerdgas aus Übersee entstehen. Und es wird sogar über eine übergangsweise Reaktivierung von AKW und Kohlemeilern debattiert, bisher absolute Tabus.

Vor allem aber: Die Bundesregierung will einen zusätzlichen Turbo beim Ökostrom einlegen. Statt etwas "vor 2050" soll die Elektrizitätsversorgung nun schon 2035 "nahezu vollständig aus erneuerbaren Energien stammen", wie es in einem Papier des Bundeswirtschaftsministeriums heißt.

Kann das funktionieren? Im vorigen Jahr deckten die Öko-Energien Sonne, Wind, Wasser und Biomasse rund 42 Prozent des Stromverbrauchs ab. Erreicht wurde der Aufwuchs in gut zwei Jahrzehnten, vor allem durch die Einführung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) im Jahr 2000.

Da die 100-Prozent-Marke, also ein Plus von 58 Prozentpunkten, nun bereits 2035, also in 13 Jahren, erreicht sein soll, muss das Tempo des Ökostrom-Zubaus deutlich angehoben werden. Die Ampel-Regierung will die dazu nötigen Gesetze schneller als bisher geplant durchs Parlament bringen.

"Wir müssen nur endlich die Füße von den Bremsen nehmen"

Experten schätzen, dass mindestens eine Verdreifachung der bisher im Schnitt erreichten Ausbauraten notwendig ist, weil der Stromverbrauch gegenüber heute tendenziell stark anwächst. Hauptgrund ist die Elektrifizierung von zwei Sektoren, die bisher noch von fossilen Energien dominiert werden: Verkehr und Gebäude.

Batterie-Autos sollen Benziner und Diesel ablösen und elektrische Wärmepumpen Öl- und Gasheizungen. Die Bundesregierung geht davon aus, dass der Stromverbrauch bis 2030 von heute rund 600 Milliarden Kilowattstunden auf 715 Milliarden ansteigen wird. Die Erneuerbaren sollen davon rund 80 Prozent beisteuern. Bis 2035 müssten nach den neuesten Berliner Plänen dann die restlichen 20 Prozent hinzukommen.

 

Richtig Fahrt aufnehmen soll der Zubau in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts. Bis 2027, 2028 beziehungsweise 2029 soll er kontinuierlich zulegen, sodass die Windräder an Land dann jedes Jahr 10.000 Megawatt Nennleistung mehr erbringen, Solaranlagen 20.000 und Offshore-Windanlagen 9.000 – zusammen also 39.000 Megawatt.

Zum Vergleich: In diesem Jahr werden in diesen Sektoren, wenn es gut läuft, 3.000, 7.000 respektive 500 Megawatt erreicht, addiert sind das 10.500 Megawatt.

Experten glauben, dass sogar ein noch höheres Tempo möglich wäre. Die Berliner Energieökonomin Claudia Kemfert sagt: "Eine Vollversorgung mit erneuerbaren Energien im klassischen Stromsektor ist bis 2030 möglich, wenn wir nur endlich die Füße von den Bremsen nehmen."

Die Elektrifizierung auch des Gebäude-, Wärme-, Industrie- und Verkehrssektors sei bis 2035 zu schaffen, meint die Expertin vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), die auch im Umwelt-Sachverständigenrat der Bundesregierung sitzt. Das sei kostengünstig und effizient machbar, wie diverse DIW-Studien zum Thema zeigten.

Konzept für noch schnellere Dekarbonisierung

Den ehrgeizigsten Plan hat bisher die Energy Watch Group (EWG) vorlegt, ein Zusammenschluss progressiver Energieexperten und Abgeordneter. Sie halten die komplette Abkehr von der fossilen Energieversorgung in allen Sektoren bis 2030 für machbar, wenn auch "mit großen Anstrengungen", wie EWG-Chef Hans-Josef Fell, ein früherer Grünen-Bundestagsabgeordneter und EEG-Miterfinder, einräumt.

Auch die Energy Watch Group geht davon aus, dass Solar- und Windenergie den Hauptanteil liefern werden. Dabei müsse sichergestellt werden, dass der bei der Windkraft bisher zurückgebliebene Süden der Republik nachzieht, weil sonst zu viele teure Nord-Süd-Stromleitungen gebaut werden müssten.

Aber auch bei den anderen Erneuerbaren – Wasserkraft, Biomasse und Geothermie – gebe es noch Potenzial, das ausgebaut werden könne. Doch müssten dabei ökologische Kriterien beachtet werden: fischfreundliche Anlagen bei der Wasserkraft, Nutzung von mehrjährigen Wildpflanzen-Kulturen statt Mais und Raps beim Biogas, siedlungsverträgliche Standortwahl für die Geothermie.

Wie ein Energiesystem ohne Fossile aussehen kann

2035 soll der Strom in Deutschland erneuerbar sein, zehn Jahre später die gesamte Energie. Damit das klappt, muss sich einiges ändern: bei den Stromnetzen, bei unserem Stromverbrauch, bei den Kraftwerken, bei unseren Heizungen. Was konkret passieren muss, beschreibt Klimareporter° in der Serie "Erneuerbar mit System".

Die Themen der weiteren Teile:

  • Biogas statt Erdgas gegen die "Dunkelflaute"
  • Strom aus Wasserstoff statt aus Erdgas?
  • zentrale Großspeicher und dezentrale Heimspeicher
  • Klimakonzepte für die Wärmeversorgung
  • Vor-Ort-Versorgung mit mehr Effizienz und Suffizienz

Allerdings: Der schnelle Ausbau der Erneuerbaren alleine reicht nicht aus. Die zweite große Herausforderung wird es sein, die Stabilität des Stromsystems auch bei 80 oder 100 Prozent Öko-Elektrizität zu sichern. Und das auch in Zeiten der "Dunkelflaute", also dann, wenn keine Sonne scheint und wenig Wind weht.

Auch hierfür gibt es Konzepte. Speichertechnologien wie Solarbatterien, Wasserstoffspeicher, Pumpspeicherkraftwerke und Wärmespeicher müssen synchron ausgebaut werden. Zudem setzten Experten darauf, die vorhandenen Biogasanlagen so mit Speichern aufzurüsten, dass sie als "Lückenfüller" dienen können.

Weitere Stichworte sind das Zusammenschalten der Ökostromanlagen zu virtuellen Kraftwerken, die Flexibilisierung des Stromverbrauchs und die Nutzung von Wasserkraftwerken in Norwegen als "grüne Batterie." Wird das alles eingesetzt, muss man wohl keine Angst vor Blackouts haben.

Redaktioneller Hinweis: Energieökonomin Claudia Kemfert gehört dem Herausgeberrat von Klimareporter° an.

 

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