Ein Monteur befestigt Solarmodule auf einem Dach.
Der jährliche Solarausbau soll nach dem EWG-Konzept auf das 18‑Fache gesteigert werden. (Foto: Alex Csiki/​Pixabay)

Die Bundesregierung will die "Netto-Null" beim CO2-Ausstoß nun schon 2045 erreichen. Vor dem jüngsten Klima-Urteil des Verfassungsgerichts hatte sie 2050 dafür angepeilt. Verglichen mit solchen Zielmarken erscheint es utopisch, bereits bis 2030 in Deutschland ein Energiesystem aufbauen zu wollen, das zu 100 Prozent mit erneuerbaren Energien funktioniert.

Der Berliner Thinktank Energy Watch Group (EWG) hält das jedoch für nötig – und auch machbar. Allerdings müsste die Energiewende dafür wirklich einen Turbo bekommen, besonders beim Ausbau der Photovoltaik und von Strom- und Wärmespeichern.

Hintergrund der von EWG dazu vorgelegten Studie ist: Deutschland müsste eigentlich schon binnen zehn Jahren klimaneutral sein, um den Pariser Klimavertrag zu erfüllen.

Laut dem Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) der Bundesregierung verfügte die Bundesrepublik 2020 nur noch über ein Rest-Budget von 6,7 Milliarden Tonnen CO2, das bei einem nicht radikal sinkenden Ausstoß 2030 schon fast aufgebraucht sein würde.

Laut den EWG-Experten müssen für das 2030-Projekt vor allem die Investitionen in Solarenergie, Windkraft, Bioenergien, Geothermie und Wasserkraft sowie in Speicher, Wärmepumpen und elektrische Antriebe im Verkehr massiv hochgefahren werden.

Wesentlich sei dabei ein dezentraler Ausbau aller Technologien im ganzen Land, gerade auch der Windkraft in den südlichen Bundesländern – was bisher vor allem in Bayern blockiert wird. Damit könne ein zusätzlicher Ausbau von Nord-Süd-Stromautobahnen vermieden werden, der lange dauert und sehr teuer ist.

Solar-Ausbau soll vervielfacht werden

Die Ausbauraten für die Technologien müssen dafür zum Teil um das bis zu 20-Fache gegenüber dem jetzigen Niveau erhöht werden. Für die Photovoltaik sieht das Konzept zum Beispiel die jährliche Installation von Anlagen mit 85.000 Megawatt Nennleistung vor.

Zum Vergleich: 2020 wurden gut 4.800 Megawatt neu installiert, das bisherige Maximum war 2012 mit 7.600 Megawatt erreicht worden. Nach diesem Rekord bremste die damalige schwarz-gelbe Bundesregierung den Zubau stark ab.

Weiterer wichtiger Punkt im EWG-Konzept ist eine höhere Energieeffizienz. So wird darin die Wärmesanierung der Häuser stark beschleunigt, die Sanierungsrate steigt von derzeit einem auf sechs Prozent der Bestandsgebäude pro Jahr.

Der nun geforderte Umbau erscheine immens, räumt der Thinktank ein. Er sei aber "durchaus machbar". EWG-Präsident Hans-Josef Fell kommentierte, die nötige Transformation habe einen "Man on the Moon"-Charakter.

"Solche exponentiellen Wachstumsgeschwindigkeiten ähneln denen, wie sie in bisherigen Technik-Revolutionen der Weltgeschichte oftmals in nur einer Dekade realisiert wurden: Mondlandung, PC, Internet und Mobilfunk." Fell, früherer Grünen-Bundestagsabgeordneter, war einer der "Erfinder" des 2000 eingeführten EEG-Fördersystems.

Der Thinktank betont, das Energie-Szenario sei "technologisch und ökonomisch umsetzbar". Die Energie-Gestehungskosten lägen "auf ähnlichem Niveau" wie 2018. Sorge vor Blackouts müsse man nicht haben. Das Konzept sichere "volle Bedarfsdeckung auch in winterlichen Dunkelflauten stundengenau" – also wenn keine Sonne scheint und wenig Wind weht.

"Wir können uns nicht aussuchen, ob wir handeln wollen"

Fragen der Akzeptanz des vorgeschlagenen rasanten Umbaus – etwa bei der Windkraft – wurden in der Studie nicht behandelt. Es sei zuerst einmal um die technische und ökonomische Realisierbarkeit gegangen, hieß es dazu auf Anfrage.

Die EWG betont allerdings, sie habe bereits in anderen Studien und Stellungnahmen vorgeschlagen, die Teilhabe der Bürger an der Energiewende wieder deutlich zu stärken, um so die Akzeptanz zu erhalten.

So plädiert der Thinktank für eine Rückkehr zur festen, "aber modern organisierten" Einspeisevergütung oder zur gleitenden Marktprämie für Investitionen unterhalb von 50 Megawatt-Anlagen – statt der heute üblichen staatlichen Ausschreibungen. "Damit können Energiegemeinschaften, Landwirte, kleine und mittlere Unternehmen wieder die Energiewende beschleunigen, so wie es bis 2013 schon mal der Fall war."

Bei einer Umsetzung des Konzepts werde Deutschland im Innovationswettbewerb um die Klimaneutralität als Industrieland weltweit führend, so die Experten, "noch vor den USA und China".

"Wir können uns angesichts des Klimanotstandes nicht aussuchen, ob wir handeln wollen oder nicht", sagt der Leitautor der Studie, Thure Traber. Es seien vor allem regulatorische, politische und infrastrukturelle Hindernisse, die den zügigen Aufbau eines emissionsfreien Energiesystems in Deutschland verhinderten. Diese könnten beseitigt werden.

Der Thinktank kritisiert, Deutschland habe die in den 2000er Jahren erreichte globale Technologieführerschaft bei Windkraft und Solarenergie durch die politische Vernachlässigung dieser Energieformen im letzten Jahrzehnt verloren, dadurch seien zusammen rund 140.000 Arbeitsplätze abgebaut worden.

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