Freunde der Energiewende haben seit heute ein Argument mehr. Ein beliebter Einwand gegen ein hundertprozentig erneuerbares Stromsystem ist, dass die Sonne nicht immer scheint und der Wind nicht immer weht. Eine sichere Versorgung sei deshalb nur mit großen Energiespeichern möglich – mit Batteriekaskaden, großen Wärmespeichern oder wasserstoffgefüllten Kavernen. Und solange es diese Speicher nicht gebe, könnten wir auf fossile Energie – einige sagen, auch auf Atomkraft – nicht verzichten.
Verfechter der Erneuerbaren antworten dann, dass das Zusammenspiel von Wind und Sonne schon ungefähr 80 Prozent des Strombedarfs in Deutschland abdeckt – und wenn man das Ganze europaweit organisiere und noch Wasserkraft und Biomasse hinzunehme, steige der Anteil weiter.
Bei diesem Konzept kam das europäische Stromnetz am heutigen Donnerstag einen Schritt voran. Nach drei Jahren Bauzeit und rund zwei Milliarden Euro Kosten ging gestern Nordlink in Betrieb, die derzeit längste Seekabel-Stromverbindung der Welt.
Über mehr als 600 Kilometer werden die Stromnetze Deutschlands und Norwegens direkt miteinander verbunden. Per Gleichstrom kann eine Leistung von maximal 1.400 Megawatt übertragen und ins jeweils andere Netz einspeist werden.
Das sind zwar nur zwei bis drei größere Kraftwerksblöcke – der Hauptzweck von Nordlink ist aber gar nicht, maximale Strommengen zu übertragen.
Deutsch-norwegischer Stromtausch
Die lange Leitung soll eine Besonderheit der norwegischen Stromerzeugung ausnutzen: den hohen Anteil von Wasserkraft. Übers Land verteilt verfügt Norwegen über rund 1.600 Wasserkraftwerke, die etwa 90 Prozent des dortigen Stroms erzeugen.
Norwegische Wasserkraft sei ein "idealer Partner für deutsche Wind- und Solaranlagen", wurde gestern bei der Inbetriebnahme ein ums andere Mal betont. Funktionieren soll das so: Gibt es in Deutschland um die Mittagszeit oder bei sehr windigem Wetter gerade im Norden ein Überangebot an Ökostrom, muss davon weniger abgeregelt werden, weil der dann besonders billige Überschuss-Strom per Nordlink nach Norwegen exportiert werden kann.
Dort werden dann die Wasserkraftwerke entsprechend gedrosselt, ihre Reserven werden geschont. Auch Norwegen verspricht sich davon mehr Sicherheit – für den Fall, dass die Stauseen in regenarmen Jahren nur wenig gefüllt sind. Eine Trockenperiode vor gut zehn Jahren soll in Norwegen den Anstoß zum Bau von Nordlink gegeben haben.
In den Fällen, wo die Sonne in Deutschland nicht scheint und der Wind nicht weht, läuft es dann umgekehrt. Dann kann der Wasserkraftstrom einspringen. Deutschland hat sich auf diese Weise praktisch einen Großspeicher für Ökostrom zugelegt.
Um die Größenordnung zu verdeutlichen: Liefe die 1.400 Megawatt-Leitung rund um die Uhr das ganze Jahr mit voller Kapazität, könnte sie rund zwölf Milliarden Kilowattstunden Strom übertragen. Verglichen mit dem deutschen Strombedarf von rund 600 Milliarden Kilowattstunden ist das nicht viel. Zur Menge des 2019 in Deutschland abgeregelten Ökostroms von 6,4 Milliarden Kilowattstunden passt die Kapazität der Leitung aber schon besser.
Wie viel Strom tatsächlich hin- und herfließen wird, wird aber vor allem davon abhängen, ob sich das für die beteiligten Erzeuger und Netzunternehmen lohnt. Es ist also eine preisliche Frage.
Eine der Projektpartner, der Netzbetreiber Tennet, erwartet denn auch, dass zumeist das Land exportieren wird, das den günstigeren Preis in den Markt einbringt. Die Preisdifferenz bestimme, in welche Richtung der Strom fließt.
Lob von Energiebranche, Regierung und Opposition
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hob bei der Inbetriebnahme am Donnerstag vor allem die verbesserte europaweite Versorgungssicherheit hervor. In der EU habe man hart am Ausbau von solchen Interkonnektoren gearbeitet.
Fortschritte habe es zuletzt auch bei Verbindungen in Richtung der baltischen Länder gegeben, sagte Merkel. Es fehlten aber noch welche, etwa nach Portugal und Spanien über die Pyrenäen. "Letztlich müssen wir die Versorgungssicherheit Europas europäisch denken, ansonsten werden wir Verluste haben", mahnte die Kanzlerin.
Merkel ging in dem Zusammenhang auch auf die deutsche Energiepolitik ein. Bei allem Erneuerbaren-Ausbau und CO2-Reduzieren müsse die Sicherheit der Stromversorgung gewährleistet bleiben, sagte sie und mahnte mehr Tempo beim Netzausbau an.
Nordlink allein löse Deutschlands Energie- und Netzprobleme nicht. Norddeutschland müsse auch besser mit dem Süden verbunden werden, erst dann könne Nordlink seine ganze Kraft entfalten. Hier seien noch große Hindernisse zu überwinden, sagte Merkel und spielte damit auf den Widerstand in den betroffenen Regionen an.
Für die Kanzlerin dürfen auch die Stromkosten nicht völlig aus dem Ruder laufen. "Wenn die CO2-Bepreisung weiter steigt, darf die EEG-Umlage nicht auch noch steigen, sondern diese muss im Gegenteil auf null gebracht werden", erklärte Merkel.
Im Moment darf sich die deutsche Politik für Nordlink auf die Schulter klopfen. Auch die Erneuerbaren-Branche findet die Seetrasse gut. So auch der Ökostromer Lichtblick, inzwischen fünfgrößter Stromversorger hierzulande.
"Das Projekt stärkt den europäischen Strommarkt und beschleunigt die Energiewende in Deutschland", sagt Lichtblick-Energieexperte Ralf Schmidt-Pleschka. "Überschüssig erzeugter Ökostrom wird künftig kostengünstig in Norwegen gespeichert und fließt bei Bedarf wieder nach Deutschland." Beim Umstieg auf die wetterabhängige Solar- und Windstromerzeugung könne so jederzeit die Stromversorgung garantiert werden.
Auch für Ingrid Nestle, energiewirtschaftliche Sprecherin der Grünen im Bundestag, ist Nordlink ein wichtiger Baustein für Europas Versorgungssicherheit. Allerdings reiche ein Kabel allein nicht aus, um zu einer klimaneutralen Stromversorgung für ganz Deutschland zu kommen, sagte Nestle.
Auch der Netzausbau an Land müsse nun Fahrt aufnehmen. Nestle: "Dafür fordern wir einen transparenten und demokratischen Beteiligungsprozess für alle Energieinfrastrukturplanungen, der allen betroffenen Bürger:innen frühzeitig eine unkomplizierte Beteiligung und Einflussnahme ermöglicht."
Redaktioneller Hinweis: Ralf Schmidt-Pleschka gehört dem Herausgeberrat von Klimareporter° an.