Bild: Kristin Rabaschus

Diese Kolumne ist eine Kooperation mit Treibhauspost, dem Klima-Newsletter von Manuel Kronenberg und Julien Gupta.

In rund zehn Jahren ist es so weit. Die Thermometer dieser Welt werden durchschnittlich 1,5 Grad mehr anzeigen, als sie eigentlich sollten.

Diese Tatsache wird unseren Planeten und damit unser Zusammenleben für immer verändern. Wir sollten diese Realität unbedingt anerkennen.

Warum dieses Realisieren für die Klimadebatte so wichtig ist? Weil die Überschreitung der 1,5-Grad-Grenze früher oder später zu einem Kommunikations-Vakuum führen wird.

Mit welchen Argumenten und Fakten dieses entstehende Vakuum in der Klimadebatte gefüllt wird, bestimmt maßgeblich mit, ob wir überhaupt noch eine Chance darauf haben, das Klima zu stabilisieren.

Das Vakuum entsteht deshalb, weil bisher das "1,5-Grad-Ziel" der gemeinsame Nenner war, auf den sich – zumindest in Deutschland – die meisten verbal einigen konnten. Selbst Christian Lindner und Alexander Dobrindt streckten im TV‑Duell vor der letzten Bundestagswahl ihre Daumen nach oben, als sie gefragt wurden, ob das 1,5-Grad-Ziel eingehalten werden muss.

Da dieses Ziel nicht mehr erreichbar ist – oder besser gesagt: die Grenze überschritten wird –, muss sich die Debatte neu einpendeln.

Die drei gefährlichsten 1,5-Grad-Bremserargumente

Profibremser wie die beiden gerade genannten werden versuchen, die Diskussionen mit unwissenschaftlichen Positionen zu vernebeln.

Um zu verstehen, was da von FDP und Co auf uns zukommen kann, habe ich die drei häufigsten und gefährlichsten Bremserargumente und Fehlinterpretationen zusammengefasst. Sie werden mit Sicherheit auch dir begegnen, wenn du in deinem Umkreis über die 1,5-Grad-Grenze sprichst.

1. "Wenn wir das 1,5-Grad-Ziel nicht mehr erreichen können, dann zumindest das Zwei-Grad-Ziel"

Wenn man genau hinschaut, ist diese nicht immer schlecht gemeinte Aussage leider völlig fehl am Platz. 1,5 Grad ist kein Ziel, sondern eine physikalische Obergrenze. Was das Katastrophen-Potenzial angeht, liegen Welten zwischen 1,5 Grad und zwei Grad. Für Inselstaaten und viele Menschen in Küstenregionen geht es um nicht mehr und nicht weniger als ums Überleben.

Das Überschreiten der 1,5-Grad-Grenze hat absolut gar nichts mit einer neuen Zielsetzung zu tun.

"Das einzige wirkliche Ziel ist null Grad Erderhitzung." – Johan Rockström

Stell dir eine Person vor, die 100 Kilo wiegt und aus gesundheitlichen Gründen unbedingt ihre Gewichtszunahme stoppen muss. Ihre Ärztin sagt ihr, alles über 120 Kilo Körpergewicht sei lebensgefährlich.

Wenn sich die Person weiter ungesund ernährt und kurz danach 20 Kilo mehr wiegt, würde ihr die Ärztin auch nicht raten, dann zumindest 150 Kilo nicht zu überschreiten. Sie würde eine sofortige Umstellung der Ernährung fordern und sogar Medikamente verschreiben.

Wie Johan Rockström, der Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, es treffend formulierte: "Das einzige wirkliche Ziel ist null Grad Erderhitzung." Das Ziel auf zwei Grad anzupassen, würde mehr theoretisches CO2-Restbudget für Staaten bedeuten, was wiederum zu noch unentschlossenerem Handeln führen würde.

Und es würde signalisieren, dass meilenweit verfehlte Klimaziele keine Konsequenzen hätten. Was wäre das für ein fatales Zeichen an die Lobbyist:innen und ihr Bremser-Klientel in der Politik?

Um das Zwei-Grad-Ziel nicht zu reißen, müssen wir nicht das Zwei-Grad-Ziel ausrufen, sondern ein sofortiges Umschwenken auf die 1,5-Grad-Pfade. Die Antwort auf die Zielverfehlung kann auf gar keinen Fall heißen: nächstes Ziel suchen. Die Stellschraube, an der jetzt gedreht werden muss, sind nicht die Ziele, sondern die Maßnahmen.

2. "Wir sollten die 1,5 Grad erst aufgeben, wenn es so weit ist"

Eine Nutzerin auf Twitter kommentierte, dass sie das 1,5-Grad-Ziel erst abschreiben will, wenn sich die Atmosphäre auch wirklich um 1,5 Grad erhitzt hat – und nicht jetzt schon.

 

Diesem Gedanken liegen zwei Irrtümer zugrunde. Erstens: Es geht nicht darum, das Ziel aufzugeben. Zweitens: Das Klima reagiert zeitversetzt auf die anthropogenen Emissionen. Selbst wenn die Menschheit ab jetzt weltweit keine Emissionen mehr ausstößt, würde sich die Erde trotzdem weiter erhitzen.

Die Hoffnung sollte also nicht darin bestehen, eine bittere Wahrheit zu verdrängen, sondern sie als Anlass zu nehmen, endlich echten Wandel und Bevölkerungsschutz einzufordern. 

Darauf zu hoffen, dass wir 1,5 Grad vielleicht doch nicht überschreiten, weil es ja noch zehn Jahre dauert, bis es so weit ist, kann sogar gefährlich sein. Dahingehend, dass diese falsche Hoffnung Nährboden bietet für beruhigende, aber deplatzierte Worte, die die Politik aktuell noch vor sich her trägt, um die Menschen und sich selbst in falscher Sicherheit zu wiegen.

3. "Man sollte Menschen mit dieser Hiobsbotschaft nicht entmutigen"

Könnten Leute auf die Idee kommen, jetzt sei alles egal? Wenn 1,5 Grad sowieso überschritten ist, könnte ich mir doch jetzt auch in der Business-Class mit gutem Gewissen das Steak einverleiben, während ich mich darüber freue, dass meine RWE-Aktien so gut performen. Die Menschheit ist gescheitert! Das groteske Spektakel schaue ich mir von der Tribüne aus an.

Wie die Psychotherapeutin Lea Dohm erläutert, kann es durchaus vorkommen, dass Menschen von einer so einschneidenden Nachricht zunächst entmutigt werden. Und es wäre aus Sicht der Mitgründerin von Psychologists for Future auch mehr als verständlich.

Jedoch sollte dies kein Grund sein, sparsam mit der Faktenlage umzugehen. Ehrlichkeit ist laut Dohm das Gebot der Stunde. Im Zweifelsfall gilt: Menschen, die über die Auswirkungen der Klimakrise Bescheid wissen, dürften diejenigen, die noch nicht im Bilde sind, nicht bevormunden.

Beim gerade beschriebenen Apokalypse-Narrativ fehlt außerdem ein ganz wichtiger Punkt: Die Klimakrise ist kein binäres Ereignis. Es gibt keinen "Klimakrise: on"- oder "Klimakrise: off"-Modus. Wir sind seit Jahrzehnten mittendrin im Krisenprozess. Ab jetzt geht es darum, die Schäden zu begrenzen. Darum, von den vielen Graustufen, auf denen wir am Ende landen können, eine möglichst helle zu erwischen.

Jedes Zehntelgrad, um das sich die Erde nicht erhitzt, verringert Kipppunkt-Risiken, Extremwetterereignisse, Hungersnöte und Artensterben. Eine der wichtigsten Botschaften zum Füllen des Vakuums in der Klimadebatte ist also: "Jedes Zehntelgrad zählt." Denn gerade jetzt gibt es noch so viel zu bewahren: Ökosysteme und Symbiosen, Regenwälder, Korallenriffe und nicht zuletzt ein friedliches Zusammen- und Überleben von Milliarden Menschen.

Katastrophe und Chance

So gesehen kann die Nachricht zur Überschreitung der 1,5-Grad-Grenze nicht nur eine riesige Katastrophe, sondern auch eine einmalige Chance darstellen. Wenn die Post-1,5-Grad-Debatte von klimaengagierten Menschen und verantwortungsbewussten Medien geprägt wird, statt von Bremsern und Leugnern, können endlich auch soziale Kipppunkte überschritten werden – hin zu echtem Handeln beim Klimaschutz.

Warum es anders laufen sollte als in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten, in denen Warnung um Warnung ignoriert wurde? Die Konsequenzen der Überschreitung von 1,5 Grad sind sehr wahrscheinlich irreversibel. Genau deswegen haben sie auch das Potenzial, eine irreversible gesellschaftliche Transformation auszulösen.

Bei über 1,5 Grad werden höchstwahrscheinlich drei riesige Eisschilde unaufhaltsam schmelzen, wodurch sich das Klima von selbst noch weiter erhitzt – Stichwort Albedo-Effekt. Es gibt aufgrund der Klima-Kipppunkte zum ersten Mal kein Zurück mehr, und das in globaler Dimension.

1,5 Grad Erderhitzung verändern alles. Sobald dies eine kritische Masse an Menschen begreift, gibt es Hoffnung, dass sich auch die Forderungen an die Politik grundlegend verändern.

Die Bevölkerung muss über 1,5 Grad aufgeklärt werden

Dafür braucht es zwei Dinge. Erstens muss die Irreversibilität der planetaren Umbrüche öffentlich hoch und runter diskutiert werden – nicht nur von Maja Göpel, sondern von der gesamten Bundesregierung.

Es braucht groß angelegte Plakatkampagnen zur Aufklärung der Bevölkerung, mindestens so ausgiebig wie zur Hochphase der Pandemie. Das Klima-Vokabular muss in den allgemeinen Wortschatz übergehen, so wie es auch mit "Inzidenz", "R-Wert" und "Aerosole" funktioniert hat.

Porträtaufnahme von Julien Gupta.
Bild: privat

Julien Gupta

ist freier Journalist in Berlin. Nach einem Ökonomie- und Management-Studium war er Mitgründer verschiedener Start-ups. Zusammen mit Manuel Kronenberg gründete er 2021 den Newsletter Treibhauspost. Alle zwei Wochen erscheint eine Ausgabe mit konstruktivem und frei zugänglichem Klima-Journalismus.

Es braucht TV-Spots und Radiobeiträge. Es braucht einen Haufen A-Promis, die den Mut aufbringen, ihrem Image einen kleinen grünen Kratzer (beziehungsweise Anstrich) zu verpassen und immer und immer wieder die Basics zu erklären.

Für so eine groß angelegte Informationskampagne ist zunächst eine 1,5-Grad-Erkenntnis aus der Politik notwendig. Die wird es jedoch nur geben, wenn nicht Aktivist:innen bei Markus Lanz Klima-Kipppunkte erklären, sondern Markus Lanz selbst.

Wo wir bei der zweiten Notwendigkeit wären: Genauso wie die Bundesregierung müssen auch große Medien ihrer Verantwortung nachkommen. Der Dimension Klima muss in Redaktionen endlich die Relevanz und die Faktentreue zugesprochen werden, die sie verdient.

Endlich Anpassung

Die 1,5-Grad-Erkenntnis bringt noch eine weitere Chance mit sich. Bisher lag der Fokus von westlicher Klimapolitik fast ausschließlich auf mitigation, also CO2-Reduktion. Die zweite große Säule adaptation, also Anpassung an den Klimawandel – zum Beispiel durch Hitzeschutzpläne oder Frühwarnsysteme – wird bisher in der Klimadebatte kaum beachtet.

Spätestens durch das wahrscheinliche Kippen des Grönland-Eisschilds, des Westantarktischen Eisschildes und der borealen Permafrostböden bei 1,5 Grad Erderhitzung muss der Aspekt der Anpassung komplett neu gedacht werden. "CO2 einsparen, um dem Planeten etwas Gutes zu tun" gehört in die klimapolitische Rhetorik der 1990er-Jahre.

Städte vor Hitze und steigenden Meeresspiegeln zu schützen, Ernten zu sichern, Migrationsbewegungen zu antizipieren und Bürgerkriege im globalen Süden zu verhindern, ist die Realität, mit der sich die Politik spätestens von jetzt an befassen muss.

Und genau hier wird deutlich, warum es so wichtig ist, den Tod von 1,5 Grad anzuerkennen. Nicht um das Ziel der sofortigen Transformation aufzugeben, sondern um mit der Gewissheit katastrophaler Umbrüche argumentieren zu können. Mit dieser Gewissheit im Rücken kann vielleicht endlich eine kritische Masse an Menschen gewonnen werden, die echtes Handeln von Wirtschaft und Politik einfordert.