Ein verlassenes zweistöckiges Haus mit Rissen und Verschiebungen offenbar infolge des sich senkenden Untergrundes, im Vordergrund steht Wasser auf dem Boden, im Hintergrund weitere Häuser.
An einigen Orten in der Tundra taut schon der Permafrostboden. Das könnte sich im Norden von Russland und Kanada abrupt beschleunigen. (Foto: Laika Ante Cibum/​Wikimedia Commons)

Die Erde hat sich gegenüber vorindustrieller Zeit um rund 1,2 Grad erwärmt. Das erscheint wenig, bringt aber bereits gravierende Veränderungen mit sich. Es gibt mehr extreme Wettereignisse, wie sich gerade in diesem Jahr zeigt: verheerende Waldbrände im Mittelmeerraum, dramatische Hitzewellen in China und den USA, historische Überschwemmungen in Pakistan.

Um eine weitere Zuspitzung der Klimakrise abzuwenden, hat die Weltgemeinschaft im Paris-Vertrag beschlossen, die Erwärmung bei zwei Grad zu stoppen, besser aber bei 1,5 Grad. Damit soll verhindert werden, dass durch Kippelemente im Klimasystem eine Kettenreaktion mit verheerenden Folgen ausgelöst wird.

Neue Forschungen zeigen nun: Schon beim aktuellen Stand der globalen Erwärmung besteht die Gefahr, dass fünf der insgesamt 16 Kippelemente überschritten werden – und die Risiken steigen mit jedem Zehntelgrad.

Die Kippelemente des Klimas wurden 2008 erstmals genauer definiert. Die Warnung damals: Werden bestimmte Kipppunkte ausgelöst, kann es zu Kettenreaktionen kommen, durch die sich die Erwärmung unkontrollierbar verstärken würde. Es droht dann eine "Heißzeit", bei der sich die Erde um vier bis fünf Grad erwärmt, was schlicht ein Ende der menschlichen Zivilisation mit sich brächte.

Damals ging man von neun solcher Elemente aus, die bei unterschiedlichen Temperatur-Schwellenwerten ausgelöst werden. Inzwischen wurde klar, dass es sieben weitere dieser Elemente gibt (siehe Grafik).

Weltkarte mit den wichtigsten Kippelementen.
Geografische Übersicht der wichtigsten Kippelemente im Klimasystem. (Grafik: PIK 2017, CC BY-ND 3.0 DE)

Ein internationales Forschungsteam hat nun die rund 200 Studien zu dem Thema zusammengefasst, die seit 2008 erschienen sind.

Ergebnis: Fünf der 16 Kippelemente sind bereits jetzt in der Gefahrenzone: der Grönländische sowie der Westantarktische Eisschild, die abzuschmelzen drohen, die Permafrostböden in Sibirien und Nordkanada, die abrupt auftauen könnten, die Labradorsee vor Kanadas Ostküste, wo die Umwälzzirkulation zusammenzubrechen droht, und die tropischen Korallenriffe, deren massives Absterben ausgelöst werden könnte.

 

Erreicht die globale Erwärmung dauerhaft 1,5 Grad, werden vier dieser fünf Ereignisse "von zunächst nur möglichen zu dann wahrscheinlichen Ereignissen", wie das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) mitteilte, das an der Überblicksstudie beteiligt war. Fünf weitere würden dann "möglich".

Anzeichen für eine Destabilisierung etwa in Teilen der Eisschilde, in Permafrost-Gebieten, im Amazonas-Regenwald und möglicherweise auch in der atlantischen Umwälzzirkulation gebe es bereits, erklärte der Hauptautor der Studie, David Armstrong McKay vom Stockholm Resilience Centre.

Der Weltklimarat IPCC hatte in seinem letzten Sachstandsbericht von 2021 dargelegt, dass das Risiko des Auslösens von Klima-Kipppunkten bei etwa zwei Grad hoch und bei 2,5 bis vier Grad sehr hoch ist. Die neue Analyse deutet laut PIK nun darauf hin, dass die Erde bereits den "sicheren" Klimazustand verlassen haben könnte.

Treibhausgas-Ausstoß herunterfahren

Die Autor:innen schießen daraus, dass der Paris-Korridor von 1,5 bis zwei Grad nicht ausreicht, um einen gefährlichen Klimawandel vollständig zu vermeiden. Die Studie liefere eine starke wissenschaftliche Begründung für die Bemühungen, die Erwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, da sie zeige, dass das Risiko von Kipppunkten jenseits dieses Niveaus eskaliert.

"Um eine 50-prozentige Chance zu haben, 1,5 Grad zu erreichen und damit das Risiko von Kipppunkten zu begrenzen, müssen die weltweiten Treibhausgasemissionen bis 2030 um die Hälfte reduziert werden, um bis 2050 netto null zu erreichen", so das PIK.

16 Kippelemente

Weltweit gibt es 16 Klima-Kippelemente – neun, die das gesamte Erdsystem betreffen, wie die Antarktis und der Amazonas-Regenwald, und weitere sieben, deren Kippen tiefgreifende regionale Folgen hätte. Zu letzteren gehören der westafrikanische Monsun und das Absterben der meisten Korallenriffe rund um den Äquator.

Wie lange das Kippen dauert, variiert je nach Kippelement zwischen Jahrzehnten und Jahrtausenden. So können sich beispielsweise Ökosysteme und Zirkulationsmuster in der Atmosphäre schnell verändern, während der Zusammenbruch von Eisschilden langsamer vonstattengeht, aber zu einem Anstieg des Meeresspiegels um mehrere Meter führt.

Im Vergleich zur ersten Analyse aus dem Jahr 2008 wurden mehrere neue Kippfaktoren wie die Labradorsee und die Ostantarktis hinzugefügt. Auf der anderen Seite wurden das arktische Sommer-Meereis und das Wetterphänomen El Niño gestrichen – hier fehlen Belege für eine Dynamik im Sinne der Kipppunkte-Definition.

PIK-Direktor Johan Rockström, einer der Autoren der Analyse, warnt davor, dass die Welt derzeit auf eine globale Erwärmung von zwei bis drei Grad zusteuere. "Damit ist die Erde geradewegs auf Kurs, mehrere gefährliche Schwellenwerte zu überschreiten, die für die Menschen auf der ganzen Welt katastrophale Folgen haben würden", sagte er.

Um gute Lebensbedingungen auf der Erde zu erhalten, die Menschen vor zunehmenden Extremen zu schützen und stabile Gesellschaften zu ermöglichen, müsse alles getan werden, um das Überschreiten von Kipppunkten zu verhindern. "Jedes Zehntelgrad zählt." Tatsächlich erwarten Expert:innen, dass die 1,5-Grad-Grenze bereits in zehn bis 15 Jahren dauerhaft überschritten wird.

Studien-Koautor Tim Lenton, der bereits 2008 an der Definition der Kippelemente beteiligt war, erklärte, die Liste sei seither deutlich gewachsen, "und unsere Einschätzung des Risikos, das sie darstellen, hat sich drastisch erhöht". Neben einer radikalen Absenkung der Treibhausgas-Emissionen sei es möglicherweise auch notwendig, sich anzupassen, "um mit Klimakipppunkten fertig zu werden, die wir nicht vermeiden können".

Zudem müssten die Menschen unterstützt werden, die dadurch Schäden erleiden können, mahnte der Direktor des Global Systems Institute an der Universität Exeter im Großbritannien.

 

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