Aysel Osmanoglu. (Bild: Martin Steffen)

Das Wichtigste aus 52 Wochen: Sonst befragen wir die Mitglieder unseres Herausgeberrats im Wechsel jeden Sonntag zu ihrer klimapolitischen Überraschung der Woche. Zum Jahresende wollten wir wissen: Was war Ihre Überraschung des Jahres? Heute: Aysel Osmanoglu, Vorstandssprecherin der GLS Bank.

Der Beginn des Jahres 2023 ist mir sehr klar im Gedächtnis geblieben: eindrucksvolle Demonstrationen in Lützerath gegen den Kohleabbau, eine riesige Kraterlandschaft dort, wo einmal Menschen gelebt haben.

Viele Kolleginnen und Kollegen der GLS Bank waren selbst vor Ort und auch ich war emotional berührt von der haltungsstarken Zivilgesellschaft einerseits und dem massiven Eingriff in die Natur andererseits. 

Der Kohlekompromiss war seinerzeit ein zweifellos bedeutender Schritt in Richtung Energiewende. Allerdings benötigen wir nach wie vor den schnellen und konsequenten Aufbau einer durchgehend nachhaltigen Energieversorgung. Auch Olaf Scholz forderte auf der Weltklimakonferenz in Dubai einen dreimal so schnellen Ausbau der Erneuerbaren als bislang.

Globale Herausforderungen brauchen mehr als symbolische Antworten

Das vergangene Jahr war geprägt durch zahlreiche globale Herausforderungen, von Naturkatastrophen bis hin zu geopolitischen Konflikten. Ereignisse wie die verheerenden Waldbrände in Kanada und die Flutkatastrophen in Afghanistan und Libyen zeigen, wie dringlich eine stärkere internationale Zusammenarbeit im Umgang mit solchen Krisen ist.

 

Geopolitische Konflikte wie der Überfall auf Israel, die zivilen Opfer in Gaza und der noch immer andauernde Krieg in der Ukraine berührten nicht nur die betroffenen Regionen, sondern beeinflussten auch unseren Alltag unmittelbar. Parallel dazu beobachteten wir einen besorgniserregenden Aufschwung antidemokratischer Kräfte in verschiedenen Ländern. Das verdeutlicht uns, wie wichtig ein aktives Eintreten für demokratische Werte ist.

Besonders dankbar bin ich deshalb über die Wahl von Donald Tusk als Ministerpräsident in Polen. Das gibt mir Hoffnung: Wenn wir als demokratische Kräfte zusammenhalten, zusammenarbeiten, gerne auch konstruktiv streiten, dann ist Veränderung zu mehr Haltung, mehr Mitsprache und mehr Rücksicht möglich.

Klimapolitisch hat der UN-Gipfel COP 28 in Dubai Fortschritte gezeigt. Es war nicht leicht, aber letztlich ist die Abkehr von fossilen Energieträgern festgehalten worden. Der finanzielle Rahmen für die Klimahilfen muss jedoch unbedingt realistischer kalkuliert werden.

Die getroffenen Zusagen für Länder, die jetzt schon unter dem Klimawandel leiden, sind als maximal symbolisch zu interpretieren. Gut, dass der Norden mit der Schaffung eines Fonds Verantwortung anerkennt. Nun braucht es aber verbindliche Zusagen für konkrete Finanzhilfen.

Interessant war es auch, den zunehmenden Widerstand der Opec und anderer Beharrungskräfte zu beobachten. Das verdeutlichte, dass trotz erzielter Erfolge ein kontinuierlicher Einsatz nötig ist, um die gesteckten Klimaziele zu erreichen.

 

Bedeutsam war auch die Entscheidung des EU-Ministerrats vom 15. November, den gesamten Finanzsektor vorerst aus dem Anwendungsbereich der Lieferkettenrichtlinie auszuschließen. Die Corporate Sustainability Due Diligence Directive (CSDDD) sollte ursprünglich alle Unternehmen verpflichten, Menschenrechts- und Umweltrisiken in ihrer Wertschöpfungskette zu erkennen und ihnen entgegenzuwirken.

Die Ausklammerung des Finanzsektors aus der Richtlinie birgt das Risiko, eine an sich sinnvolle Regelung zu verwässern – ähnlich wie bei der EU-Taxonomie, wo Atomkraft und Erdgas als nachhaltig eingestuft wurden. Es gibt immer noch die Chance, Banken und Finanzdienstleister in die Richtlinie einzubeziehen, um eine verantwortungsvolle Finanzierung sicherzustellen.

Mein Appell geht daher an alle Beteiligten, sich für eine Lieferkettenrichtlinie unter Einschluss des Finanzsektors einzusetzen. Eine solche Richtlinie bietet die Möglichkeit, dass die gesamte Finanzbranche sich vertieft mit den Auswirkungen ihrer Kreditvergabe auf Menschenrechte und Umwelt auseinandersetzt.

Reflexion und Ermutigung

In der Debatte über soziale Maßnahmen wie die Kindergrundsicherung oder das Bürgergeld kam eine bemerkenswerte Diskrepanz zum Vorschein: Hohe Subventionen für verschiedene Branchen werden akzeptiert, gleichzeitig herrscht aber Zurückhaltung, wenn es um die Finanzierung sozialstaatlicher Absicherung geht.

Während über einstellige Milliardensummen für soziale Grundpfeiler im Bundestag und den Medien gestritten wird, beobachte ich in Politik und Gesellschaft ein unverhältnismäßig stilles Abnicken bei einem Vielfachen an Unternehmenshilfen. Dieses Missverhältnis zeigt für mich, dass eine Neuausrichtung in sozialen und wirtschaftlichen Strukturen notwendig ist.

Persönlich durfte ich als Vorstandssprecherin der GLS Bank im Jahr 2023 weiterhin an der Vision einer nachhaltigen und zukunftsorientierten Gemeinschaft arbeiten, die auf ökologische und soziale Verantwortung setzt. Das macht mir Mut und gibt mir Kraft. Ich wünsche mir, dass wir die Menschen mehr in den Fokus rücken – bei wirtschaftlichen wie politischen Entscheidungen.

Den Menschen in den Mittelpunkt stellen, daran glaube ich. Und auch, wenn es am Ende des Jahres 2023 mit seinen (wieder) aufflammenden Konflikten unwahrscheinlich erscheinen mag: Ich bin überzeugt, dass dieser Ansatz uns zu einer friedensschaffenden Wirtschaftsweise führen kann und wird, wenn wir uns beteiligen.

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