Wird das neue Energiesystem an den Notwendigkeiten vorbeigeplant? (Karikatur: Gerhard Mester/​SFV)

Sehr zersplittert läuft die Diskussion in Deutschland über die zukünftige Energieversorgung. Erst wurde monatelang über den Sinn und Unsinn von E‑Fuels debattiert. Jetzt wird im politischen Streit über das Gebäudeenergiegesetz versucht, den großflächigen Einsatz von Wasserstoff in der Wärmeversorgung zu ermöglichen – unter dem Schlagwort "Technologieoffenheit".

Geradezu folgerichtig hat die FDP auf ihrem jüngsten Parteitag beschlossen, Deutschland brauche auf der Grundlage einer "ergebnisoffenen und faktenbasierten" Analyse des Energiebedarfs eine "Energieversorgungsstrategie". Dabei bleibe die Einhaltung der Pariser Klimaziele für die FDP verbindlich, wird im Leitantrag bekräftigt.

Tatsächlich ist diese Analyse jedoch bereits in Arbeit und soll am Ende auch in einer Strategie aufgehen.

Schon im Oktober 2022, vor einem halben Jahr, hat das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz den Prozess zur Systementwicklungsstrategie, abgekürzt SES, gestartet. Die SES verfolgt laut dem Ministerium den Anspruch, "die Kohärenz der verschiedenen Strategien und Programme im Sinne eines preisgünstigen, verbraucherfreundlichen, effizienten, umweltverträglichen und klimaneutralen Gesamtsystems" zu gewährleisten.

Kurz gesagt, es geht um eine abgestimmte, wenn nicht sogar harmonische Entwicklung des ganzen Energiesystems.

Die zu entwickelnde Strategie soll damit den Rahmen für nachgelagerte Prozesse vorgeben, darunter die Netzentwicklungspläne für Strom, Gas und Wasserstoff sowie die kommunale Wärmeplanung und die nationale Biomassestrategie. Vorgedacht hat diesen Planungsprozess die Deutsche Energieagentur (Dena) mit ihrer dritten Netzstudie aus dem Januar 2022.

Eine Angelegenheit der ganzen Bundesregierung

Wie es um den ganzen Prozess der Entwicklung einer neuen Energieinfrastruktur steht – einschließlich der SES –, hat jetzt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) im Auftrag der 100 Prozent Erneuerbar Stiftung analysiert und die Ergebnisse soeben in einem "Policy Paper" veröffentlicht.

Die Forscher kommen zu dem Schluss: Die Systementwicklungsstrategie ist der richtige Weg, um die unterschiedlichen Strategien zusammenzuführen. Es hapert jedoch noch bei der konkreten Umsetzung durch das Wirtschaftsministerium. Die SES muss noch optimiert und angepasst werden, um eine kohärente, also abgestimmte Entwicklung tatsächlich zu erreichen.

Dazu sprechen die DIW-Experten eine Reihe von Empfehlungen aus. Zu den wichtigsten gehört: Die gesellschaftlich-ökologische Transformation zur Klimaneutralität ist eine Aufgabe der gesamten Bundesregierung und nicht nur des Wirtschafts- und Klimaministeriums.

Am Ende muss die SES deshalb von der ganzen Bundesregierung und nicht nur vom Ministerium beschlossen werden. Um das gut vorzubereiten, sollte nach Ansicht des DIW ein Staatssekretärsausschuss den SES-Prozess begleiten. So könnten politische Unstimmigkeiten frühzeitig vermieden werden, die sonst möglicherweise am Ende des SES-Prozesses aufbrechen. Dazu gehört für das DIW auch die Diskussion über Wasserstoff im Wärmesektor.

Der Anspruch der SES, unter den verschiedenen Strategieprozessen der Bundesministerien Kohärenz herzustellen, muss dabei von allen Ministerien ernst genommen werden. Dies ist nach Ansicht des DIW bisher nur selten der Fall. Auch das Wirtschaftsministerium könne hier noch zulegen.

Werden bei Kraftwerken und Heizungen Fakten geschaffen?

Ein Beispiel: Bis Mitte dieses Jahres sollen Tausende Megawatt sogenannter H2‑ready-Gaskraftwerke ausgeschrieben werden, die mit Erdgas und später mit Wasserstoff betrieben werden sollen. Die Ergebnisse der Systementwicklungsstrategie werden aber erst Ende des Jahres vorliegen.

Foto: 100 Prozent Erneuerbar Stiftung

Harald Uphoff

ist Geschäftsführer der 100 Prozent Erneuerbar Stiftung. Der studierte Biologe war zuvor Leiter der Abteilung Konflikt­vermeidung beim Kompetenz­zentrum Natur­schutz und Energie­wende und seit 2007 Vize-Geschäfts­führer beim Bundes­verband Erneuerbare Energie sowie seit 2008 Geschäfts­führer des Bundes­verbands Deutscher Wasser­kraft­werke.

Beide Strategieprozesse sollten jedoch eng verzahnt werden, betonen die Forscher. Bisher fehlt aber eine gründliche Analyse, welche kurzfristigen Flexibilitäten zum Beispiel durch (Groß-)Batterien oder steuerbare Industrieprozesse dem Stromsystem zur Verfügung gestellt werden können. Sollte sich daraus ein geringerer Bedarf an neuer Stromerzeugung ergeben, muss entsprechend weniger ausgeschrieben werden, so das DIW.

Ein zweites Beispiel für Widersprüchlichkeiten findet sich im neuen Gebäudeenergiegesetz. Dort sind "verbindliche Transformations- und Investitionspläne" für die Umstellung auf Wasserstoff vorgeschrieben, wenn neue Heizungen vorerst weiter mit Gas betrieben werden sollen. Damit wird aber eine neue, eigenständige Planung für Wasserstoffnetze eingeführt, die auch keinen Bezug zur SES oder zur kommunalen Wärmeplanung hat, kritisiert das DIW.

De facto werden also "im luftleeren Raum" Wasserstoffbedarfe formuliert. So werden vielleicht für einzelne Wirtschaftsakteure gute Lösungen gefunden, die aber insgesamt nicht das Beste für alle zur Folge haben.

Die politische Debatte mit Systemblick führen

Soll die SES wirklich einen Rahmen für die künftige Energieinfrastruktur setzen und für damit verbundene nachgeordnete Prozesse verbindliche Parameter schaffen, muss die Politik Ankerpunkte festlegen, schreiben die Forscher. Für das DIW gehören dazu neben der Klimaneutralität im Jahr 2045 auch verbindliche Jahreszahlen für den Erdgas- und Kohleausstieg, ein klares Treibhausgasbudget sowie eine Maximalmenge für importierten, nachhaltig erzeugten Wasserstoff und seine Derivate wie Ammoniak.

Die Systementwicklungsstrategie wäre damit der Ort, an dem auch politische Diskussionen geführt werden müssen. Dort müssen die Ergebnisse dieser Debatten zusammenfließen und in ihren Wirkungen auf das gesamte Energiesystem bewertet werden. So ist zu klären, wie viel E‑Fuels oder importierter Wasserstoff wann zur Verfügung stehen und welcher zusätzliche Strombedarf daraus resultiert.

Außerdem schlägt das DIW vor, die SES deutlich agiler zu organisieren, um zum Beispiel nichtlineare Entwicklungen frühzeitig in die strategischen Leitszenarien aufzunehmen. Zurzeit sind beispielsweise – rein marktgetrieben – fünfmal mehr Großbatteriespeicher in der Planung, als in den bisherigen Leitszenarien für 2030 angenommen wird.

Ebenso verläuft der weltweite Photovoltaik-Ausbau seit Jahren schneller als erwartet. In Deutschland gilt dies für den Solarausbau auf Freiflächen außerhalb der EEG-Förderung.

Parallele Planungen auf gleicher Grundlage

Die Beteiligung der Interessengruppen aus der Energiebranche an der Systementwicklungsstrategie läuft aus Sicht der Studienautoren bisher transparent und zufriedenstellend. Eine Fehlstelle sieht das DIW aber bei der Einbindung von Unternehmen und der Bevölkerung.

Zeitmangel sei als Begründung für Letzteres zu hören. Damit vergebe das Wirtschaftsministerium aber die Chance, der künftigen Energiestrategie eine breitere Legitimation und Akzeptanz zu verschaffen, bemängeln die Autoren. Dafür schlagen sie vor, eine Struktur zur Bürgerbeteiligung zu etablieren, ein "SES-Begleitgremium".

Alles in allem geht es also um eine Energieinfrastruktur-Planung aus einem Guss. Neben der SES gehören für das DIW dazu parallele und auf Grundlage gleicher Szenarien durchgeführte Netzentwicklungsplanungen für Gas und Strom. Dazu gehöre außerdem ein eigener "Netzentwicklungsplan Wasserstoff", erarbeitet durch einen Akteur ohne wirtschaftliches Eigeninteresse.

Nötig sind laut Studie außerdem regionale Netzentwicklungspläne für alle Stromverteilnetze sowie eine verpflichtende kommunale Wärmeplanung für alle Kommunen, die um eine regionale Gasnetzplanung ergänzt wird. Nicht zuletzt, so die DIW-Experten, braucht es endlich eine Speicherstrategie.

Um das energiepolitische Themenhopping zu strukturieren, ist die Systementwicklungsstrategie der richtige Ort. Dafür muss sie aber politisch verbindlicher sein und in diversen Punkten weiterentwickelt werden.

Trauen wir uns.

Redaktioneller Hinweis: Claudia Kemfert, Mitautorin der DIW-Studie, und Matthias Willenbacher, Vorstand der 100 Prozent Erneuerbar Stiftung, gehören dem Herausgeberrat von Klimareporter° an.

 

Anzeige