Klimareporter°: Herr Terli, um das Pariser 1,5-Grad-Klimaziel noch zu erreichen, müsste die Welt bis 2030 die CO2-Emissionen von derzeit jährlich 40 Milliarden Tonnen in etwa halbieren. Dass das erreicht wird, ist schon sehr unwahrscheinlich.

An der Seite von Klimaforschern veröffentlichten Sie kürzlich einen Meinungsbeitrag, in dem die Staaten aufgefordert werden, anstelle der 1,5 Grad ein Klimaziel von 1,0 Grad zu setzen. Ist ein solches Ein-Grad-Limit nicht geradezu utopisch?

 

Özden Terli: Das klingt sicher nach einer Provokation: Die Welt hält nicht einmal die 1,5 ein und da kommen welche mit 1,0. Unser Beitrag weist auch darauf hin, dass wir genau genommen zur vorindustriellen Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre zurückmüssten.

Gegenüber dieser Zeit haben wir jetzt eine globale Erwärmung von 1,2 Grad. Schauen wir uns doch an, was es allein in diesem Jahr an klimarelevantem Extremwetter gab – Hitzewellen und sintflutartiger Regen – oder an nicht vorhersagbaren Ereignissen, beispielsweise die massive Erwärmung des Nordatlantiks, der seit März auf Temperatur-Rekordkurs ist. Zu alldem findet sich in allen Daten nichts Vergleichbares.

Zeigen die aktuellen Ausschläge, dass das Klimasystem viel dynamischer und auch verletzlicher ist, als die Modelle das bisher voraussagten?

Das scheint aus der Extremwetter-Beobachtung heraus tatsächlich so zu sein. Es betrifft ja nicht nur dieses Jahr. Schon 2018 hatten wir in Deutschland ein Dürrejahr, in dem bereits im Februar die Niederschläge ausblieben. Das ging dann bis fast in den November so. Da hatte sich das Wettersystem quasi festgesetzt. Die Hochs bewegten sich nicht mehr und alles trocknete aus.

Derzeit haben wir im Pazifik ein El‑Niño-Ereignis, das eine zusätzliche Erwärmung bringt. Ist 2023 dann nicht ein Sonderjahr, in dem die Klimaerwärmung einen Höhepunkt erreicht und sich dann wieder verlangsamt?

In Wahrheit hat El Niño noch gar nicht richtig gewirkt. Und unabhängig davon sind die Ozeane sehr warm und das Meereis in der Antarktis hat sich nicht so gebildet, wie es zu erwarten wäre – es ist auf Rekordniveau, im negativen Sinne.

Özden Terli

wurde 1971 in Köln geboren. Der ausgebildete Elektroniker und studierte Meteorologe arbeitete als Wetterredakteur bei wetter.com und Pro Sieben Sat 1, bevor er 2013 zum ZDF wechselte.

All das weist auf größere Zusammenhänge hin. Denn Wasser hat eine enorme Wärmekapazität. Wenn sich in den Meeren derart gravierend etwas verändert, ist etwas Größeres im Gange. Es könnten auch schon Strömungen in den Ozeanen gestört sein. Das alles sind sehr, sehr beunruhigende Punkte.

Wir müssen davon ausgehen, dass 1,5 Grad keine sichere Grenze und zu viel sind. Auch sagen Studien, dass schon bei 1,5 Grad – und darüber hinaus ohnehin – Kipppunkte im Klimasystem getriggert werden, angefangen vom Grönlandeis bis hin zur Schmelze in der Westantarktis und den Meeresströmungen, die diese Regionen verbinden.

Ein akzeptables Klimaziel kann nicht allein darin bestehen, irgendein Limit nicht zu überschreiten. Unser Ziel muss doch sein, die Risiken maximal zu minimieren, damit wir nicht krassere Dinge anstoßen, die wir nicht im Blick haben und überhaupt nicht mehr kontrollieren können.

Gilt also eher der Satz, es kommt auf jedes Zehntelgrad an, als der Satz, wir müssen das 1,5-Grad-Limit einhalten?

Es wäre schon sehr gut, wenn wir die 1,5-Grad-Marke nicht überschritten. Sie wurde schon zweimal kurzfristig übertroffen, einmal davon beim Super-El‑Niño 2016. Da kamen wir sogar auf über 1,7 Grad.

Derzeit besagen die Schätzungen, dass wir Mitte der 2030er Jahre die 1,5-Grad-Marke dauerhaft überschreiten werden. Das ist nicht mehr so lange hin. Damit gehen wir hohe Risiken ein.

Die Klimawissenschaft sagt auch: Selbst bei einer starken CO2-Reduktion werden wir für einige Jahre die 1,5 Grad übertreffen, es tritt der sogenannte "Overshoot" ein. Um dann wieder unter die 1,5 zu kommen, werden wir Milliarden Tonnen CO2 mit technischen Mitteln aus der Atmosphäre holen müssen, heißt es, vor allem mit CO2-Abscheidung und -Speicherung und mit Carbon Dioxide Removal.

Fürs 1,0-Grad-Ziel müssten laut Ihrem Fachbeitrag ab den 2060er Jahren sogar um die 40 Milliarden Tonnen CO2 jedes Jahr aus der Atmosphäre geholt werden. Ist das überhaupt machbar?

Die Gegenfrage ist doch: Haben wir eine Alternative? In dem Text schlagen wir vor, schon ab 2030 die regenerativen Energien massiv hochzufahren, damit wir auch genügend Energie für die CO2-Abscheidung haben.

Natürlich kann man fragen, ob wir tatsächlich schon jetzt eine Antwort darauf haben müssen, wie wir das ganze CO2 abscheiden. Wir können die Frage aber auch nicht beiseiteschieben, schon aus dem Grund, weil die Ölindustrie die CO2-Abscheidung als Mittel nutzen will, um weiter Öl verkaufen zu können.

Wir müssen auf null Emissionen herunter. Daran führt kein Weg vorbei. Das reicht aber eben nicht mehr.

Stellen wir uns vor, wir erreichten relativ schnell eine Nullemissions-Welt und die Erwärmung bliebe mit 1,8 Grad halbwegs stabil. Dieser Zustand würde dann aber für weitere hunderte Generationen anhalten. Das ist einfach zu viel für das Klimasystem und uns Menschen. Deswegen müssen die Temperaturen wieder sinken.

Der zunehmende Druck des Klimawandels auf das Leben der Menschen und die Schäden durch Wetterextreme lassen auch Geoengineering-Konzepte stärker hervortreten. Wäre das ein letzter Ausweg, bevor das Klima völlig lebensfeindlich wird?

Von Geoengineering halte ich nichts. Angenommen, wir bringen zum Beispiel große Mengen an Schwefeldioxid in die Atmosphäre ein und erreichen tatsächlich ein Abschotten von Sonneneinstrahlung. Emittieren wir dann aber weiter CO2 und wird das Schwefeldioxid irgendwann ausgewaschen, kann es zu einem Temperatursprung kommen. Das ist ein Horrorszenario.

Natürlich wissen wir nicht, wie verzweifelt künftige Generationen sein werden und in welchem Zustand die Erde sein wird. Ob die Menschheit dann im Geoengineering eine Möglichkeit sieht, die Temperatur zu stabilisieren, können wir nicht voraussehen.

Bleiben wir auf dem derzeitigen Pfad des Weiter-so, habe ich die Befürchtung, dass Geo-Lösungen in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts immer mehr Anhänger finden, mit der Begründung, andernfalls gehe alles vor die Hunde.

Europa erlebt dieses Jahr schlimmste Hitze, Niederschläge und Waldbrände. Extreme in dieser Stärke würde es ohne den Klimawandel nicht geben. Dennoch zeigt sich die Gesellschaft beim Klimaschutz stärker gespalten denn je. Heiße Sommer, starke Regen und Waldbrände habe es früher auch schon gegeben, sagen viele. Wie erleben Sie das?

Ich erlebe, dass den Leuten die Ausnahmekatastrophen, beispielsweise in Griechenland mit der Hitze und den riesigen Regenmengen, zu denken geben. Und dass auch allmählich verstanden wird, was das mit dem Klimawandel zu tun hat.

Diejenigen, die das nicht akzeptieren wollen, haben oft eine politische oder fossile Agenda oder eine aus beidem kombinierte. Für mich ist vieles, was zu Klimafragen in den sozialen Medien verbreitet wird, nicht mehr vertrauenswürdig. Da sind jede Menge Bots und Trolle unterwegs, die Anti-Klima-Kampagnen organisieren.

 

Müssen wir aber nicht auch anerkennen, dass Klimaschutz die Leute jetzt ganz anders betrifft? Mit dem Heizungsgesetz beispielsweise hält der Klimaschutz Einzug in den unmittelbaren Lebensbereich, ob jemand das will oder nicht.

Die Notwendigkeit, die Emissionen der Gebäude zu senken, ist ja nichts Neues. Alles sähe anders aus, hätten wir über Jahrzehnte keine Regierungen gehabt, die die Klimafragen bis in die Gegenwart verschleppt haben.

Diese Verschleppung über Jahrzehnte erzwingt jetzt eine schnelle Dekarbonisierung, ruft Gesetze auf den Plan, die große Veränderungen mit sich bringen.

Oder hatte jemand die Vorstellung, Klimaschutz könnte immer noch mehr oder weniger vor sich hin tröpfeln? Dass es so nicht weitergehen kann, war doch von vornherein klar.

Alles, was mit fossilen Energien zu tun hat, wird weniger und teurer werden. Darauf müssen wir uns einrichten. Wer sich jetzt noch eine Gasheizung einbaut, ist für mich eigentlich Opfer von Desinformationskampagnen. Dass diese zu funktionieren scheinen, hat auch eine gewisse Tragik.