Der schnelle Eisverlust auf Grönland wird in den meisten Modellen unterschätzt. (Bild: Dan Rea/​USAF/​Wikimedia Commons)

Mehrere tausend Meter tief reicht die atlantische Umwälzzirkulation AMOC. Sie sorgt im Atlantik für den beständigen Austausch warmer und kalter Wassermassen.

Teil des Strömungssystems ist der für das europäische Klima so wichtige Golfstrom. Besonders für Nordwest- und Nordeuropa fungiert er als eine Art Wärmepumpe, ohne die es im Durchschnitt fünf bis zehn Grad kälter wäre.

Eine jetzt im Fachmagazin Nature Communications erschienene Studie gibt nun Anlass zur Sorge. Genau dieser Temperatursturz könnte danach noch in diesem Jahrhundert eintreten.

Mit einer 95-prozentigen Wahrscheinlichkeit wird die Umwälzzirkulation zwischen 2025 und 2095 kollabieren, schreiben der Klimaforscher Peter Ditlevsen und die Mathematikerin Susanne Ditlevsen von der Universität Kopenhagen in ihrer Studie.

Das Strömungssystem gilt als einer der Kipppunkte des globalen Klimasystems. Bricht die Strömung also einmal zusammen, wäre das nach gegenwärtigem Wissensstand unumkehrbar – selbst dann, wenn die Erde wieder zu vorindustriellen Temperaturen zurückkehren sollte.

Messungen zeigen schon seit Jahren, dass die Strömung schwächer wird. Gegenwärtig ist sie langsamer als jemals in den letzten tausend Jahren, wie die Auswertung von Sedimenten zeigt.

Die Gründe dafür sind das schnelle Abschmelzen des Grönland-Eisschildes und stärkere Niederschläge im Nordatlantik. Das zusätzliche Süßwasser verdünnt das Oberflächenwasser des Meeres, senkt den Salzgehalt und damit die Dichte des Wassers.

Doch genau dieser hohe Salzgehalt ist der Motor des Strömungssystems. Das salzreiche und dadurch schwerere Wasser sinkt im Nordatlantik in die Tiefe und fließt dort wieder zurück Richtung Süden. Je langsamer das Wasser absinkt, desto schwächer ist die gesamte Umwälzbewegung.

Die einzige Weltregion, die kälter wird

Bisher gingen die meisten Wissenschaftler:innen davon aus, dass ein Zusammenbruch dieses Systems, zumindest in diesem Jahrhundert, unwahrscheinlich ist. Der Weltklimarat IPCC gibt im Sonderbericht zu den Ozeanen von 2019 die Wahrscheinlichkeit noch mit unter zehn Prozent an.

Die meisten Studien dazu basieren auf Simulationen mit Klimamodellen. Meeresforscher Stefan Rahmstorf, der selbst seit Jahrzehnten zu dem Strömungssystem forscht, erläuterte in einem Gastbeitrag im Spiegel, was die Schwächen der Modelle sind.

"Erstens vernachlässigen sie meist den zunehmenden Eisverlust von Grönland, der das Atlantikwasser verdünnt", so Rahmstorf, "und zweitens haben die meisten Modelle wohl eine viel zu stabile Atlantikzirkulation."

Visualisierung der warmen Meeresströmungen im Nordatlantik auf Basis einer Nasa-Weltraumaufnahme.
Fällt der Golfstrom teilweise aus, wird es in Europa schnell kälter – und dafür woanders noch wärmer. (Bild: NASA/​Agencja Artystyczna Antrakt/​Shutterstock)

Das veranschaulicht der cold blob, eine Kälteblase südlich von Grönland im Atlantik. Es ist die einzige Gegend auf der Welt, die trotz des Klimawandels abkühlt. Sie gilt als Folge und damit auch Indikator dafür, dass sich die AMOC abschwächt.

Die meisten Klimamodelle sagen das Auftreten dieser Kälteblase erst für die Zukunft voraus – ein weiteres Indiz, dass die Modelle die Abschwächung der AMOC unterschätzen.

Die Studienautor:innen Peter und Susanne Ditlevsen haben sich für einen anderen Forschungsansatz entschieden. Die Geschwister untersuchten die Entwicklung der Kälteblase seit 1870.

Mittels einer statistischen Analyse versuchten sie, mögliche Frühwarnsignale aus den Schwankungen der Temperatur der Kälteblase herauszulesen und anhand eines Modells einen möglichen Zeitpunkt zu identifizieren, wann der Kipppunkt überschritten werden könnte.

Laut der Studie ist es am wahrscheinlichsten, dass die Zirkulation in 34 Jahren, also 2057 zusammenbricht. Allerdings ist es möglich, dass nur Teile der Strömung davon betroffen sind und Teile des Golfstroms erhalten bleiben.

"Die Autoren haben sich zu weit aus dem Fenster gelehnt"

"Ein Zusammenbruch der AMOC kann schwerwiegende Folgen für das Erdklima haben, indem er beispielsweise die globale Verteilung von Wärme und Niederschlägen verändert", sagte Peter Ditlevsen.

Während es unumstritten ist, dass ein Kollaps der Atlantikzirkulation katastrophale Folgen hätte, sind einige Fachkolleg:innen von den viel beachteten Studienergebnissen weniger überzeugt.

Niklas Boers vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung hält das in der Studie verwendete Modell für zu einfach, um daraus verlässliche Prognosen abzuleiten. "Die Autoren haben sich hiermit zu weit aus dem Fenster gelehnt und die relevanten Unsicherheiten nicht genug berücksichtigt", sagte er.

Boers kam allerdings selbst 2021 in einer Studie zu dem Ergebnis: "Die AMOC hat sich möglicherweise von relativ stabilen Bedingungen zu einem Punkt nahe einem kritischen Übergang entwickelt."

In jedem Fall häufen sich die Belege, dass das Risiko eines Zusammenbruchs der Atlantikzirkulation in der Vergangenheit unterschätzt wurde. Auch Rahmstorf geht mittlerweile davon aus, dass der Kipppunkt wesentlich näher liegt als gedacht.

 

Die Konsequenzen eines Kollapses sind nicht absehbar und wären weltweit zu spüren. Nicht nur würde sich Europa um mehrere Grad abkühlen, auch der Meeresspiegel vor der europäischen Küste würde um bis zu einem Meter ansteigen.

Aufgrund des geringeren Wassermassenaustauschs könnte der Atlantik weniger CO2 aus der Atmosphäre aufnehmen, was wiederum den Klimawandel beschleunigt. Gleichzeitig würde der Sauerstofftransport in die Tiefsee abreißen, mit weitreichenden Folgen für marine Ökosysteme.

Trotz aller wissenschaftlichen Uneinigkeit und Unsicherheit dürfte zumindest dieses Zitat von Peter Ditlevsen auf einen breiten Konsens unter seinen Kolleg:innen stoßen: "Unser Ergebnis unterstreicht, wie wichtig es ist, die globalen Treibhausgasemissionen so schnell wie möglich zu reduzieren."