Bürgerenergiegenossenschaft Emmendingen (BEGEM)
Bürgerenergiegenossenschaften wie hier im badischen Emmendingen sind eine Form der Beteiligung, die aber nur einen Teil der Bevölkerung einbezieht. (Foto: Demian Pleuler)

Zukunftsweisend und mutig sind die Beschlüsse, die Frankreichs Klima-Bürgerrat erarbeitet hat. Das geltende Tempolimit von 130 Kilometern pro Stunde soll auf 110 km/h abgesenkt werden. Die Mehrwertsteuer auf Fahrkarten soll sinken und mehr Geld in neue Fahrradspuren fließen.

Außerdem sollen Inlandsflüge bis 2025 verboten werden, ebenso der Bau neuer Flughafen. Sämtliche Gebäude sollen bis 2040 energetisch saniert werden.

Über die folgenden Vorschläge sollen alle Bürger:innen per Referendum abstimmen: Klimaschutz wird künftig in der französischen Verfassung verankert. "Ökozid" wird als Verbrechen in das französische Strafrecht aufgenommen.

Insgesamt 149 Empfehlungen hat Frankreichs Klima-Bürgerrat ausgesprochen. Damit soll es dem Land gelingen, seine Treibhausgasemissionen bis 2030 um 40 Prozent im Vergleich zu 1990 senken. An mehreren Wochenenden hatten 150 zufällig ausgeloste Bürger:innen die Vorschläge mit Unterstützung von Wissenschaftler:innen erarbeitet.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hatte den Klima-Bürgerrat einberufen, nachdem die von ihm geplante Einführung einer CO2-Steuer an landesweiten Protesten der Gelbwesten gescheitert war. Mit der Beteiligung von Bürger:innen sollte offenbar ausgelotet werden, welche Maßnahmen von der französischen Gesellschaft mitgetragen werden.

Ob und wie die Vorschläge umgesetzt werden, ist aber fraglich. Macron hat zwar versprochen, die Beschlüsse ernst zu nehmen. Zugleich sprach er sich aber gegen eine Verschärfung des Tempolimits aus.

Klima-Bürgerräte auch in Irland und Großbritannien

Vorbild für die französische Bürgerversammlung war Irland. Dort wurde 2016 ein solches Gremium einberufen, das auch Vorschläge zur Klimapolitik unterbreitete und sich beispielsweise für höhere CO2-Steuern auch in der Landwirtschaft aussprach.

Auch in Großbritannien war im vergangenen Jahr ein Klima-Bürgerrat eingesetzt worden. Am gestrigen Donnerstag hat er seine Empfehlungen an die Politik vorgelegt. Steuern für Vielflieger, mehr erneuerbare Energien und Verkaufsverbote für Gasheizungen und Autos mit Verbrennungsmotor gehören zu den Vorschlägen, die jedoch ebenso unverbindlich sind wie in Frankreich.

Trotz der ungewissen Zukunft der Bürgerrats-Beschlüsse im politischen Prozess findet ein solches Gremium auch hierzulande Unterstützung. "Bürgerräte machen politische Entscheidungen möglich. Die Politik kann eigentlich sofort loslegen, weil sie durch die Räte eine ganz klare Orientierung bekommt, wie sie entscheiden könnte, oder eine Beratungsgrundlage bekommt", sagt Claudine Nierth vom Verein Mehr Demokratie. Bürgerräte beschleunigen aus Sicht von Nierth politische Prozesse.

Nachdem der große Wurf in der Klima- und Energiepolitik hierzulande in den vergangenen Jahren ausgeblieben ist, bräuchte es nun einen solchen Beschleuniger. Schließlich sind die weltweiten Durchschnittstemperaturen seit Beginn der industriellen Revolution schon um mehr als ein Grad gestiegen. Um die im Pariser Klimaabkommen vereinbarte Grenze von 1,5 Grad noch einzuhalten, helfen nur effektive und schnell greifende Maßnahmen.

Gravierende Veränderungen nur mit breiter Beteiligung

Nicht nur die Blockaden in der Klimapolitik, auch die verbleibenden Auswege sprechen für Bürgerräte. Weil die Klimakrise umfassende Veränderungen in den Produktionsweisen und beim Konsumverhalten erfordert, müssen möglichst viele Menschen an den Entscheidungen zu einer klimaneutralen Lebensweise beteiligt werden.

"Klimapolitik ist keine Politik, die nur von Experten ausgedacht und von Politikerinnen und Politikern umgesetzt werden kann", sagt Ortwin Renn vom Potsdamer Nachhaltigkeitsinstitut IASS. "Es muss eine gesellschaftliche Debatte darüber entstehen, wie wir unsere gemeinsame Sorge ums Klima in richtige Politik umsetzen können."

Es gebe hier keine Politik, die alternativlos sei, aber mit halbherziger Kosmetik würden die Klimaziele verfehlt, meint Renn. "Wir brauchen tatsächlich gravierende Einschnitte – auch in unser öffentliches Leben, in unsere Wirtschaft, in unsere Lebensweise und -kultur."

Für Renn ist das nur denkbar, wenn die Bürgerinnen und Bürger in den Prozess einbezogen werden. "Es ist wichtig, dass wir hier als Gesamtgesellschaft versuchen, diese große Herausforderung und auch den Zeitdruck, den wir haben, möglichst sozialverträglich und möglichst gemeinsam zu bewältigen."

Ohnehin ist das Ziel, die Erderwärmung zu begrenzen, mit dem Pariser Klimaabkommen gesetzt – lediglich der Weg dahin ist noch unklar. Zwar werden Ideen und Vorschläge diskutiert, aber ein Fahrplan fehlt.

Ein möglicher Fahrplan

"Die Transformation wird stattfinden. Sämtliche Studien, die sich mit Nachhaltigkeit beschäftigen, zeigen: Business as usual ist kein gutes Zukunftsszenario", sagt Maja Göpel, Generalsekretärin des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung für Globale Umweltveränderungen. In der öffentlichen Debatte müsse sich immer ein Abweichen vom "Weiter so" rechtfertigen, während der Status quo sich überhaupt nicht rechtfertigen müsse.

Wie ein Fahrplan zum Klimaziel konkret aussehen kann, hat ein Team um Karl-Martin Hentschel, ehemaliger Politiker und jetzt Vorstand bei Mehr Demokratie, erarbeitet. Mehr als 300 Studien haben die Autor:innen ausgewertet und mit dem "Handbuch Klimaschutz" ein Überblickswerk vorgelegt, wie Deutschland das 1,5-Grad-Ziel noch erreichen kann.

Für einzelne Sektoren wie Energie, Wärme, Verkehr, Industrie, Landwirtschaft, Bodennutzung und Abfälle werden darin Lösungsvorschläge entwickelt.

Zum Beispiel Energie. "Wir müssen bis 2030 aus der Kohle aussteigen und den gesamten Energiesektor 2035 treibhausgasneutral stellen, weil wir andere Bereiche wie Verkehr und Heizung nur treibhausgasneutral bekommen, wenn sie elektrifiziert werden", sagt Karl-Martin Hentschel.

Neben Vorschlägen für einzelne Sektoren liefert das Buch Basiswissen und Daten zum Klimaschutz. So lässt sich beispielsweise das 1,5-Grad-Ziel in Deutschland nur erreichen, wenn Deutsche weiterhin doppelt so viel CO2 verursachen dürfen wie durchschnittliche Weltbürger. "Das entspricht aber nicht dem globalen Klimakonsens", gibt Hentschel zu bedenken.

Deutschland auf CO2-Budget ärmerer Länder angewiesen

In der internationalen Klimadiplomatie gibt es keine formale Einigung, wie das globale Emissionsbudget unter den Ländern aufgeteilt wird. Eine Option dafür wäre es, einfach jedem Menschen auf der Welt den gleichen Anteil daran zugestehen. Wie viel ein Staat noch emittieren darf, hinge dann davon ab, wann man den Startpunkt für das Aufteilen ansetzt, wie viele historische Emissionen also einfließen – und dann schlicht von der Bevölkerungsgröße.

Deutschland könne seinen fairen Anteil zum Erreichen des 1,5-Grad-Ziels nach dieser Herangehensweise im Grunde gar nicht mehr erreichen, sagt Hentschel, weil dafür schon zu viele Emissionen verursacht wurden. Deutschland ist also auf das Budget von Menschen angewiesen, die weniger CO2 verursachen.

"Wir können das 1,5-Grad-Ziel erreichen, wenn wir andere Staaten, die ihr Budget nicht ausschöpfen müssen, technologisch und finanziell unterstützen, bis 2050 treibhausgasneutral zu werden und eine moderne Energieversorgung und Infrastruktur aufzubauen", schlägt Hentschel vor.

Buchcover Handbuch Klimaschutz.

Das Buch

Das "Handbuch Klimaschutz. Wie Deutschland das 1,5-Grad-Ziel einhalten kann" ist im Oekom Verlag erschienen und kostet 20 Euro.

Das Buch will vor allem die öffentliche Diskussion zum Klimaschutz voranbringen. Politik, Wissenschaft und Bürger:innen sollen zusammenkommen und gemeinsam beraten, welche Maßnahmen das Land zur Bewältigung der Klimakrise beschließen sollte.

Die Frage lässt sich auf unterschiedlichen Ebenen – in Kommunen, Ländern oder auch auf Bundesebene – verhandeln. Oder wie in Frankreich, Irland und Großbritannien von ausgelosten Bürger:innen in einem Rat.

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