Ein voll besetzter Bus mit der Aufschrift
Trotz jahrelanger Warnungen des IPCC regiert in Wirtschaft und Politik vielfach noch die Hoffnung, die Klimaziele ohne größere Korrekturen zu schaffen. (Karikatur: Gerhard Mester/​SFV)

Wer die Weltklimadiplomatie kennt, weiß, dass offizielle Zeitpläne immer mit einem Puffer geplant sind. Endet ein UN-Klimagipfel an einem Freitag, fällt frühestens am Samstag der Konferenz-Hammer.

Auch der jetzt vom Weltklimarat IPCC vorgelegte Synthesebericht, der die drei Teilberichte des sechsten Sachstandsberichts zusammenfasst, sollte eigentlich schon am Freitag vorliegen. Schließlich wurde die knapp 40-seitige Zusammenfassung für politische Entscheider erst am gestrigen Sonntagnachmittag fertig. Diese "Summary for Policymakers" soll den ausführlichen Bericht auf einen lesbaren Umfang verdichten.

Für Mitautor Oliver Geden ist das ein schon normales Prozedere. Letztlich sei der Synthesebericht ein diplomatisches Dokument zwischen den Regierungen, sagt der Experte von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Das im Bericht Festgehaltene gelte dann als unbestritten, darüber werde in den Klimaverhandlungen nicht mehr wirklich diskutiert. Insofern stelle der Bericht einen "privilegierten Input" dar, erklärt Geden.

Das verleiht dem Synthesebericht einen besonderen Stellenwert. Auf seiner Grundlage müssen die UN-Staaten bis 2025 neue eigene Klimaziele, sogenannte "Nationally Determined Contributions" (NDC) vorlegen. Die neuen NDCs werden dabei vor allem auf den Zeitraum bis 2035 ausgerichtet sein.

Im Synthesebericht sind deswegen erstmals auch globale Reduktionsziele für 2035 prominent aufgeführt. Damit gebe es erstmals eine Art Benchmark, einen Maßstab für die nötige Emissionsminderung bis 2035, erläutert Geden.

Soll das 1,5-Grad-Limit für die Erderwärmung zumindest auf längere Sicht eingehalten werden, müssen danach die globalen CO2-Emissionen bis 2035 um 65 Prozent sinken, ausgehend vom Basisjahr 2019. Für die Zwei-Grad-Grenze ist immer noch eine CO2-Reduktion um 37 Prozent nötig.

Klimaziele laufen auf 2,8 Grad Erwärmung hinaus

Welche Einsparlücke sich da auftut, lässt sich im Synthesebericht allein daran ablesen, dass die Umsetzung der derzeitigen nationalen Klimapläne für 2030 auf eine globale Erwärmung um 2,8 Grad gegenüber vorindustrieller Zeit bis zum Jahr 2100 hinausläuft.

Die Forscher stellen dabei nicht in Abrede, dass beim Klimaschutz in den letzten Jahren einiges passiert ist. Fragen der Klimaanpassung seien viel bedeutsamer geworden. Heute werde dank der Attributionsforschung viel besser verstanden, wie Wetterextreme und Klimawandel zusammenhängen. Gleichzeitig erlebten Solarenergie und Windkraft drastische Kostensenkungen.

Die Anstrengungen beim Klimaschutz werden nach Ansicht der Wissenschaftler aber durch die steigenden Treibhausgasemissionen ausgehebelt. "Die Weltgemeinschaft hat nicht schnell genug gehandelt, deswegen ist es jetzt dringlicher geworden", sagt Mitautor Matthias Garschagen von der Uni München.

Die Wissenschaft betone die wachsende Dringlichkeit zu mehr Klimaschutz nicht aus Eigennutz, so Garschagen weiter, sondern weil diese Dringlichkeit in den letzten Jahren eben zugenommen hat.

Die grundlegenden Botschaften blieben die gleichen: Es gelte, jedes Zehntelgrad Temperaturanstieg zu verhindern und bis 2030 die Emissionen drastisch zu senken. Anderenfalls würden bestimmte Ziele früher oder später unerreichbar.

Panik ist nach Meinung der Forscher aber auch dann nicht angebracht, wenn die 1,5 Grad übertroffen werden sollten. Physikalisch gesehen sei es nicht so, dass die Welt bei einer Erwärmung um 1,5 Grad in einen Abgrund fiele. Eher seien es "viele kleine Abgründe", die sich dann auftäten, erläutert Gerhard Krinner vom Institut für Umweltgeowissenschaften an der Uni Grenoble, ein weiterer Mitautor am Synthesebericht.

Trugschluss bei den "negativen Emissionen"

Der Bericht betont auffallend deutlicher als frühere Berichte, wie wichtig das kurzfristige Klimahandeln auf längere Sicht ist. "Noch haben wir es in der Hand, das Schlimmste abzuwenden. Dieses Fenster schließt sich aber rapide", warnt Garschagen. Und dabei seien nun wirklich die nächsten Jahre entscheidend, das müsse endlich konkret verstanden und in die Tat umgesetzt werden.

Einige Folgen des Klimawandels sind allerdings schon irreversibel, also weder zu verhindern noch später rückgängig zu machen – auch das stellen die Experten klar. Dazu gehören das Absterben bestimmter Biotope wie der Korallenriffe, das Auftauen des Permafrostbodens, das Schwinden der Gletscher oder der steigende Meeresspiegel in kommenden Jahrhunderten und Jahrtausenden.

 

Für Matthias Garschagen wäre es auch ein Trugschluss anzunehmen, man könne sich vorübergehend ein Verfehlen von Klimazielen leisten, weil es in der Zukunft leichter sein werde, "negative Emissionen" zu erzeugen und die Erwärmung wieder zurückzudrehen.

Der Bericht zeige sehr deutlich auf, mit welchen "brachialen Risiken" so ein Vorgehen verbunden wäre, sagt der Klimaforscher. "Es wäre relativ egal, ob wir global beim Klimaschutz nach einigen Dekaden wieder zurückkämen. Wenn diese Systeme einmal verloren sind, sind sie unwiderruflich verloren."

Kommentar von Joachim Wille:

Interview mit Klimaforscher Mojib Latif:

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