Porträtaufnahme von Hartmut Graßl.
Hartmut Graßl. (Foto: Christoph Mischke/​VDW)

Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrates erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Professor Hartmut Graßl, Physiker und Meteorologe.

Klimareporter°: Herr Graßl, am Montag erscheint der zweite Teil des sechsten Sachstandsberichts des IPCC. Es geht darin vor allem um die Folgen des Klimawandels und die Möglichkeiten, sich daran anzupassen. Der Report wird zeigen, wie sehr sich die Welt schon verändert hat und mit welchen katastrophalen Klimarisiken wir in Zukunft rechnen müssen. Wenn Sie auf die Entwicklung der wissenschaftlichen Arbeit des Weltklimarats zurückschauen – sehen Sie da besondere Meilensteine oder Erkenntnisse?

Hartmut Graßl: Vor etwas über 33 Jahren, im November 1988, fand im Kongresszentrum in Genf die erste Sitzung des IPCC statt, des Intergovernmental Panel on Climate Change, auf Deutsch Zwischenstaatlicher Ausschuss über Klimaänderungen.

Niemand ahnte damals, dass schon rund 30 Jahre später die anthropogenen Klimaänderungen das globale Krisenthema sein würden – dass etwa der Bundestagswahlkampf des Jahres 2021 vom Klimaschutz dominiert sein sollte und die jungen Wähler unter 30 mit dem Thema einen Regierungswechsel erreichen würden.

Zunächst startete Deutschland damals mit einer politischen Fehleinschätzung der Bedeutung des IPCC: Die von der Weltorganisation für Meteorologie formal korrekt an den Präsidenten des Deutschen Wetterdienstes gesandte Einladung zur konstituierenden Sitzung des IPCC wurde nur mit Verzögerung an das Bundesforschungsministerium weitergeleitet.

Dort ging die Unterschätzung weiter, und zwar mit der Entsendung nur eines einzigen Wissenschaftlers. Als damaliger Vorsitzender des Sachverständigenkreises "Klimatologische Grundlagenforschung" des Forschungsministeriums saß ich dann allein im Genfer Kongresssaal hinter dem Schild "Bundesrepublik Deutschland".

Am Spätnachmittag des ersten Sitzungstages ging ich zur nahegelegenen Ständigen Vertretung der Bundesrepublik bei den Vereinten Nationen und bat um Flankierung durch einen Diplomaten. Am zweiten Sitzungstag saß deshalb für ein paar Stunden ein Legationsrat Erster Klasse neben mir.

Der IPCC war von Anfang an ein von wissenschaftlichen Erkenntnissen geleitetes Gremium, das schon mit seinem ersten Bericht von 1990 die Umweltminister der Staaten veranlasste, zur Konferenz für Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio eine Klimakonvention zu fordern. Die lag dann auch vor und wurde angenommen.

Ein weiterer Meilenstein war die klare Aussage im zweiten Bericht der IPCC-Arbeitsgruppe 1 von 1995: "Die Beweislage deutet auf einen erkennbaren Einfluss des Menschen auf das globale Klima hin" – die Anerkennung des Klimawandels als menschengemacht.

Dafür bekam mein Hamburger Kollege Klaus Hasselmann den Nobelpreis für Physik – 26 Jahre später. Er war 1995 der Erste, der das Herauswachsen des menschlichen Einflusses aus der natürlichen Klimavariabiltät mit seiner mathematischen Fingerabdruck-Methode zeigte.

Heute ist der IPCC die Organisation, die für das Wissensgebiet Klima die umfassendste Bewertung unter Einbeziehung aller dafür notwendigen Disziplinen vorlegt.

Die Klimapolitik sollte naturbasierte Lösungen stärker in den Blick nehmen, fordert der Umweltforscher Udo E. Simonis in einem Gastbeitrag für Klimareporter°. Der Schutz der Natur und die dadurch mögliche CO2-Aufnahme müssten die technische CO2-Einsparung ergänzen. Wie sehen Sie das?

In den Böden, vor allem in den höheren Breiten und speziell in den Mooren, ist mehr Kohlenstoff enthalten als in der Atmosphäre oder den Pflanzen.

Das Plädoyer von Udo Simonis für naturbasierte Lösungen in der Klimapolitik enthält fast alles Notwendige. Ich möchte nur ergänzen: Weil der Ausstoß von Kohlendioxid in die Atmosphäre bis vor Kurzem überhaupt nichts kostete, hat nicht nur die Industrie, sondern auch die Landwirtschaft Raubbau an Kohlenstoff-Reservoiren betrieben und die Atmosphäre zu einer kostenlosen Müllhalde für Kohlendioxid gemacht.

Die Möglichkeiten für mehr Kohlenstoffspeicherung in der Landwirtschaft sind sehr unterschiedlich schwierig. Zwei Beispiele, wie sich mehr Kohlenstoff speichern und zugleich verloren gegangene biologische Vielfalt wiederherstellen lässt, sind die Renaturierung der Moore und naturnähere Kulturlandschaften.

Nach Berechnungen des Umweltbundesamtes entweichen in Deutschland jährlich etwa 55 Millionen Tonnen CO2 aus den entwässerten Hoch- und Niedermooren. Das sind fast acht Prozent der gesamten Emissionen in Deutschland.

Um diese Flächen wieder zu einer Kohlenstoffsenke und zu einem Lebensraum für Tiere und Pflanzen zu machen, ist oft nur eine vergleichsweise kleine Anhebung des Grundwasserspiegels nötig.

Ich fordere die Bundesländer mit entwässerten Mooren auf, diese Renaturierung nachdrücklicher als bisher anzupacken. Außerdem ist der Torfabbau für die Gartenerde zu beenden.

In den kommenden Jahren werden immer wieder Kulturlandschaften wegen der Klimaänderungen durch Extremniederschläge verwüstet werden, nicht nur, weil Niederschlagsrekorde weiter zunehmen werden, sondern auch, weil seit Jahrzehnten die regionale ökonomische Entwicklung dominiert und nicht die ökologische.

Zum Beispiel muss im Ahrtal der Wiederaufbau nicht nur technischen Schutz durch andere Brücken und Rückhaltebecken enthalten, sondern auch Auenwälder, Anschluss von Mäandern, Weinberge mit bodenbedeckender Vegetation sowie die Verlagerung von Gebäuden.

Die EU bezieht 40 Prozent ihres Gasbedarfs aus Russland, Deutschland sogar 55 Prozent. Der Krieg in der Ukraine könnte die Energieversorgung gerade in Deutschland empfindlich treffen. Höhere Energiepreise werden für dieses Jahr ohnehin erwartet. Was sollten wir in der Lage energiepolitisch tun?

Die Energiewende noch stärker als bisher vorantreiben. Es ist ein Märchen, dass die fossilen Brennstoffe billiger seien als die erneuerbaren Energieträger.

Schon vor einem Jahrzehnt hat das Umweltbundesamt vorgerechnet, dass die Umweltschäden durch die fossilen Brennstoffe, allen voran die vom Kohlendioxid ausgelösten Klimaänderungen, als Milliardenkosten zuschlagen. Wer also Kohlekraftwerke weiterbetreibt, schadet unserem Land auch finanziell.

Deutschland ist bereit, 30 Milliarden Euro an Steuergeldern zur Schadensbeseitigung in den Einzugsgebieten von Ahr und Erft, also für einen recht kleinen Teil unseres Landes, auszugeben. Die Schäden wären nachweislich entschieden geringer ausgefallen ohne die Auswirkungen aus dem zusätzlichen Treibhauseffekt der Atmosphäre.

Und was war Ihre Überraschung der Woche?

Die Zeitenwende dieser Woche, ausgelöst durch einen Aggressor, der ein ihm militärisch nicht drohendes Nachbarland überfällt, hat gezeigt, dass für sicher Gehaltenes schnell unsicher werden kann.

Für mich ist noch klarer geworden, dass die größte Friedensdividende für fast alle Nationen in der rasch erhöhten Nutzung der erneuerbaren Energieträger liegt, weil die Sonne auf jedes Land scheint und der Wind an vielen Küsten recht zuverlässig bläst.

Eine weitere für alle gleichermaßen zugängliche Friedensdividende ist die Steigerung der Effizienz bei der Energie- und Ressourcennutzung, für die wir eine politisch stärkere Initiative brauchen.

Fragen: Jörg Staude

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