Klimareporter°: Herr Geden, alle sprechen jetzt von Klimaneutralität: Europa, die USA, China – und nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts und der Neufassung des Klimaschutzgesetzes auch Deutschland. Wir wollen unsere Treibhausgas-Emissionen nun bis spätestens 2045 auf netto null senken. Sind das nur fromme Vorsätze oder ist das tatsächlich zu schaffen?
Oliver Geden: Beides. Ich glaube, dass es in den meisten Fällen machbar wäre. Aber so richtig sicher bin ich mir da nur bei der EU, einfach weil sie ihre Klimaziele bislang immer erreicht und auch dafür gesorgt hat, dass die entsprechenden Instrumente und gesetzlichen Mittel geschaffen wurden.
Bei Deutschland bin ich mir nicht ganz so sicher. Zum einen, weil wir die Neutralität jetzt fünf Jahre früher erreichen müssen als anfangs geplant, zum anderen, weil Deutschland bisher alle seine Klimaziele verpasst hat, mit Ausnahme des Corona-Jahrs 2020. Und ob der Nachsteuerungsmechanismus im Klimaschutzgesetz, der für das Einhalten der Sparziele in den einzelnen Sektoren sorgen soll, wirklich greift, werden wir erst noch sehen.
Wie könnte ein gangbarer Weg zur Klimaneutralität denn aussehen? Was wären die wichtigsten Leitplanken?
Im Grunde genommen sind das keinen anderen Leitlinien, als sie bisher bei etwas weniger ambitionierten Treibhausgas-Reduktionszielen schon diskutiert wurden. Was neu sein wird, ist die Tatsache, dass man schnell lernen wird: Nicht alle Sektoren können wirklich auf null kommen. Es wird Wirtschaftsbereiche geben, in denen Emissionen übrig bleiben.
Welche wären das zum Beispiel?
Bei der Landwirtschaft gilt es als sehr sicher, dass der Treibhausgas-Ausstoß nicht ganz wegzubekommen ist. Natürlich kann man weniger Fleisch produzieren, aber generell entstehen bei Tierhaltung, Landnutzung und beim Düngen immer Emissionen.
Ein anderes Beispiel ist die Zementindustrie. Selbst wenn man die Herstellung von Zement mit der Abspaltung und Speicherung von Kohlendioxid kombiniert, wird die Auffangrate nie bei 100 Prozent liegen.
Auch die Erzeugung von blauem, also erdgasbasiertem Wasserstoff könnte zu Restemissionen führen. Und wie es im Flugverkehr 2045 aussehen wird, ist heute schwer vorhersagbar.
Lässt sich trotz aller Unsicherheit, was in mehr als 20 Jahren sein wird, schon ungefähr abschätzen, von welchen Restmengen an unvermeidlichem Treibhausgasen insgesamt auszugehen ist?
Für eine verlässliche Aussage gibt es noch zu wenige Modellierungen dazu, und es geht dabei ja auch immer um politische Entscheidungen, nicht nur um wirtschaftliche oder rein technische.
Laut der Studie "Klimaneutrales Deutschland" für die Agora-Thinktanks und die Stiftung Klimaneutralität werden in Deutschland etwa fünf Prozent der Emissionen von 1990 übrig bleiben, das wären dann 63 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent pro Jahr.
Das Umweltbundesamt nimmt in einer älteren Analyse einen Wert von drei Prozent. Auch das neue Klimaschutzgesetz geht implizit von mindestens 40 Millionen verbleibenden Tonnen im Jahr 2045 aus. Auf EU-Ebene und in anderen Ländern wird dagegen oft mit zehn Prozent Restemissionen gerechnet.
Um dann trotzdem Klimaneutralität zu erreichen, muss für diese Restemissionen ein Ausgleich geschaffen werden. Das heißt, es gilt Verfahren zu entwickeln, um CO2 aus der Atmosphäre wieder herauszuholen, sodass die Gesamtbilanz am Ende bei null oder vielleicht sogar unter null liegt, also sogenannte negative Emissionen entstehen. Welche Konzepte gibt es dafür?
Die scheinbar naheliegendste Variante wäre, einfach mehr aufzuforsten. Denn die Bäume entnehmen bei der Fotosynthese CO2 aus der Luft und speichern es. Genau das wird weltweit ja auch schon gemacht.
Man könnte auch Moore oder Feuchtgebiete aller Art renaturieren, weil solche Ökosysteme ebenfalls relativ große Mengen Kohlendioxid binden können, Moore allerdings nur sehr langsam.
Aber sind diese natürlichen CO2-Auffangbecken tatsächlich verlässliche Langzeitspeicher? Wälder können abbrennen oder von Schädlingen befallen werden.
Ja, das generelle Problem bei in dieser Gruppe von Maßnahmen ist, dass man sich nicht sicher sein kann, wie lange das CO2 gespeichert wird, weil biologische Systeme an sich anfällig sind. Und die Erderwärmung erhöht das Risiko noch.
Wir werden mit Sicherheit noch viel dazulernen, was unter sich verändernden Klimabedingungen möglich oder eben nicht möglich ist. Aber diese Art der CO2-Aufnahme wird immer ein bisschen wacklig sein, es werden sehr starke jährliche Schwankungen bleiben.
Hätten wir für groß angelegte Aufforstungen überhaupt genug Platz?
Oliver Geden
ist Sozialwissenschaftler und Leitautor für den Sechsten Sachstandsbericht des Weltklimarates IPCC. Er forscht bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Dort leitete er fünf Jahre die Forschungsgruppe Europa.
Das könnte schwierig werden. Nehmen Sie zum Beispiel die 40 Millionen Tonnen Restemissionen, die laut Klimaschutzgesetz ab 2045 jährlich aus der Atmosphäre geholt werden sollen. Wenn wir das mit Aufforstung lösen wollen, wird es eng.
Denn klassisch aufgeforstete Bäume ziehen irgendwann nicht mehr viel CO2 aus der Atmosphäre. Und dann brauchen wir wieder neue Flächen für zusätzliche Pflanzungen, es sei denn, wir nutzen sehr viel mehr Holz als langlebiges Baumaterial.
Jedes Jahr in solch einer Größenordnung CO2 aus der Luft zu holen ist nicht wenig. Man betreibt Forstwirtschaft in Deutschland bislang nicht in erster Linie aus Klimaschutzgründen, die entsprechende CO2-Bindung wurde auch nicht auf die nationalen Klimaziele angerechnet.
Gibt es andere, vielleicht praktikablere Ansätze?
Es gibt eine ganze Reihe von Konzepten, die im Prinzip infrage kommen. Das reicht von den rein technologischen Methoden, etwa das CO2 direkt aus der Luft zu holen und anschließend unterirdisch einzulagern, bis hin zu Mischformen aus biologischen und technischen Prozessen.
Zu Letzterem gehört zum Beispiel der BECCS-Ansatz, also Biomasse energetisch zu nutzen und das dabei frei werdende CO2 abzuspalten und einzulagern. Oder aus Biomasse mittels Pyrolyse Pflanzenkohle herzustellen und diese dann in die Böden einzubringen. Pflanzenkohle bindet das CO2 relativ stabil und verbessert zugleich die Bodenqualität.
Oder auch die künstlich beschleunigte Verwitterung von Gestein. Beim Verwittern bindet zum Beispiel Basalt Kohlendioxid, allerdings sehr langsam. Der Prozess lässt sich ankurbeln, indem man das Gestein klein mahlt und so seine anlagerungsfähige Oberfläche vergrößert.
Sind diese Methoden schon einsatzbereit?
Grundsätzlich ja, man müsste jetzt allerdings großskalig ausprobieren, wie effektiv sie wirklich sind. Wie die beschleunigte Verwitterung funktioniert, ist klar, das ist ziemlich grundlegende Geologie. Aber man weiß bislang nicht genau, wie weit sich der Prozess beschleunigen lässt und wie viel CO2 dabei genau gebunden wird.
Die Bioenergiegewinnung mit CCS, sprich mit der Abspaltung und Speicherung von CO2 zu koppeln, ist technisch überhaupt kein Problem, weil beide Verfahren einzeln bereits angewandt werden.
Trotzdem laufen bislang weltweit nur wenige Pilotprojekte für BECCS.
Das ist richtig. Die fortgeschrittenste europäische BECCS-Anlage steht zurzeit in Großbritannien, auf dem Gelände des ehemaligen Kohlekraftwerks Drax. Die Kessel dort wurden irgendwann auf Biomasse umgestellt. Jetzt soll das frei werdende CO2 zusätzlich eingefangen und unter dem Nordseegrund deponiert werden.
Die Anlage ist allerdings umstritten.
Ja, weil sie große Mengen Holzpellets aus den USA und zukünftig auch aus Kanada importiert. Man kann sich schon fragen, ob es sinnvoll ist, Pellets über den Ozean zu transportieren, um anschließend in Großbritannien damit Strom zu produzieren. Ob die CO2-Bilanz der gesamten Prozesskette wirklich aufgeht, ist sehr fraglich.
Ein Grund sind auch die internationalen Anrechnungsregeln für Biomasse. Wird diese importiert und energetisch genutzt, dann wird im Empfängerland ein Emissionsfaktor von null angesetzt. Durch die Kopplung mit CCS könnte sich Großbritannien in großem Maße Negativemissionen anrechnen lassen. Die Emissionen aus der Landnutzungsänderung im Exportland werden jedoch dort verbucht.
Gibt es Projekte, die Sie überzeugender finden?
Es gibt eine Testanlage in Stockholm, die größtenteils mit Reststoffen aus der Forstwirtschaft arbeitet. Davon gibt es im waldreichen Schweden große Mengen. Mit dem Blockheizkraftwerk will der städtische Versorger Stockholm Exergi erproben, ob er nicht sogar CO2-negativ werden kann. Allerdings hat Schweden bisher keine Lagermöglichkeiten für CO2, deshalb soll das Gas nach Norwegen transportiert werden, was das Konzept verteuert.
Wie hoch schätzt man denn die Kosten für eine gespeicherte Tonne CO2 bei solchen BECCS-Systemen?
Das ist noch mit großer Unsicherheit behaftet, die Kosten werden sich ja nach Biomassequalität und Transportweg unterscheiden. Die Kostenschätzungen von Stockholm Exergi liegen bei 80 bis 100 Euro pro Tonne CO2, inklusive Speicherung.
Das ist viel.
Die Varianten, die CO2 direkt aus der Luft holen und chemisch binden, um es anschließend zu speichern, sind noch teurer. Die Schweizer Firma Climeworks hat beispielsweise ein Direct-Air-Capture-System entwickelt, das mit Abwärme aus Industrieprozessen oder Geothermie betrieben werden kann. In Island läuft bereits eine Pilotanlage. Bei dieser Technologie werden die Kosten derzeit auf rund 500 Euro pro Tonne CO2 beziffert.
Bei einem aktuellen CO2-Preis von rund 50 Euro pro Tonne im europäischen Emissionshandel werden sich solche Verfahren kaum am Markt durchsetzen können.
Das kommt auf die Skalierung an. Derzeit sind auf der Welt kaum mehr als ein Dutzend Direct-Air-Capture-Anlagen in Betrieb. Wenn die Stückzahlen irgendwann deutlich hochgehen und die Anlagen gleichzeitig effizienter werden, könnten die Kosten der Technik deutlich sinken – ähnlich wie das auch bei der Windenergie oder der Photovoltaik geschehen ist.
Lesen Sie hier Teil 2 des Interviews: "CO2-Rückholung ist kein Thema, mit dem man Wahlen gewinnt"