Ein Windpark, eine Solar-Freiflächenanlage und Stromleitungen auf einem Feld.
Bei Marktversagen muss der Staat eingreifen. Bei existenziellem Marktversagen erfordert das Mut. (Foto: Jens Ickler/​Shutterstock)

Vor 140 Jahren wurden in Berlin die ersten elektrischen Straßenleuchten aufgestellt. Damit begann auch in Deutschland der Siegeszug der Elektrizität. Schon im darauffolgenden Jahr 1883 wurde in Berlin die Vorgängergesellschaft der AEG gegründet.

Fast anderthalb Jahrhunderte sind ein langer Zeitraum. Vergleichsweise kurz ist die Zeitspanne, in der der Strommarkt in Deutschland liberalisiert ist. 1998 fiel dafür der Startschuss.

Umso mehr verwundert angesichts dieser kurzen Zeit, dass in der gegenwärtigen Strompreiskrise manche "Experten" so tun, als könnte es nur einen liberalisierten Energiemarkt geben. Historisch ist er bisher eher die Ausnahme als die Regel.

Eines ist klar: Kein Marktsystem der Welt wird langfristig überdauern, das weite Teile der Bevölkerung und der Wirtschaft in eine Existenzkrise oder gar in die Insolvenz treibt und gleichzeitig Rekordgewinne ("Windfall-Profits") bei einigen wenigen Akteuren zulässt – und auch noch das Klima ruiniert.

Der Strommarkt in Deutschland ist, vereinfacht gesagt, dadurch gekennzeichnet, dass Geschäfte an der Börse kurzfristig (Spotmarkt) und langfristig (Futures) abgeschlossen werden. Darüber hinaus gibt es den außerbörslichen Stromhandel, über den ein Großteil der Geschäfte abgewickelt wird.

Dieses Nebeneinander von kurz- bis langfristigen Verträgen führt dazu, dass Preisentwicklungen bei den Verbrauchern meist verspätet ankommen. Das birgt die große Gefahr, dass katastrophale Entwicklungen unterschätzt werden und dass, wenn sie eintreten, keine Reaktion mehr möglich ist.

In Spanien und Portugal ist der Stromhandel viel stärker vom kurzfristigen Spotmarkt geprägt. Die Regierungen beider Länder konnten unter anderem deswegen mit der Deckelung des Gaspreises so schnell reagieren und die extremen Preise an den Strombörsen tatsächlich absenken. Wobei zu beachten ist, dass sich die beiden Länder als Halbinsel in einer geografischen Sondersituation befinden und die physikalische Vernetzung der Stromsysteme mit dem Rest Europas nicht so stark ausgeprägt ist.

Was passiert, wenn man die Preisentwicklung weitgehend laufen lässt, zeigt Großbritannien. Aktuelle Umfragen lassen befürchten, dass sich dort jede vierte Familie das Heizen im kommenden Winter schlicht nicht mehr leisten kann.

Strommarktregime dringend reformbedürftig

Anders als in den Ländern, die für Strom nur einen Spotmarkt haben, treten in Deutschland die preislichen Verwerfungen meist mit Verzögerung ein. Spürbar sind sie aber jetzt schon, vor allem beim Abschluss neuer Verträge.

Dogmatiker sagen nun, auch in der dramatischen Strompreiskrise dürfen man nicht in "freie Märkte" eingreifen. Dem ist schlicht zu entgegnen, dass alle Märkte Regeln haben und dass bei einer Entwicklung wie derzeit die Regeln schlicht falsch sind oder nicht mehr funktionieren.

Auch unabhängig von der aktuellen Lage ist klar, dass das derzeitige Strommarktregime dringend reformbedürftig ist. So ist in den letzten 20 Jahren der Ausbau der erneuerbaren Energien größtenteils nicht über das bestehende Regime der Merit Order finanziert worden.

Grundlage war in den meisten Fällen das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) und das Kraft-Wärme-Kopplungs-Gesetz (KWKG). Dadurch konnte die Kraftwerkskapazität deutlich erhöht werden. Ohne die Erneuerbaren stünde Deutschland jetzt vor dem Blackout.

Von den letzten Bundesregierungen wurden dabei viel zu niedrige Ausbauziele für Wind und Photovoltaik festgelegt. Das Wirtschaftsministerium, allen voran der langjährige Minister Peter Altmaier, ist seiner Verantwortung nicht gerecht geworden. Die Ampel-Koalition hat deswegen zu Recht die Ausbauziele deutlich nach oben korrigiert.

Noch nicht geändert aber ist die Regelung, dass die Erneuerbaren das Risiko negativer Preise am Strommarkt zu tragen haben, obwohl sie dafür nicht verantwortlich sind. Dieser Hinweis mag angesichts der aktuellen Preise absurd erscheinen, aber nach dem Ende der Krise wäre damit die Finanzierungsbasis der Erneuerbaren weiter akut gefährdet.

Wir sind in der Lage, durch den Ausbau der Erneuerbaren, durch Einsparungen und die Verlagerung von Importen schneller als bisher gedacht von russischem Erdgas unabhängig zu werden.

Frankreichs AKW-Krise trifft auch Deutschland 

Viel dramatischer als bei uns ist jedoch die Lage in Frankreich mit einer anfälligen Atomkraftwerksflotte und den völlig unrealistischen und gefährlichen Träumen von einer Renaissance der Atomenergie.

Frankreich steckt mehrfach in der Falle. Die Kosten für die Atomkraftwerke steigen. Zugleich fehlen Einnahmen durch ausgefallenen Atomstrom. Zudem muss Strom für bestehende, durch eigene Kraftwerke aber nicht zu erfüllende Lieferverträge teuer zugekauft werden.

Klaus Mindrup vor einem Straßenzug mit Berliner Mietshäusern.

Klaus Mindrup

Der studierte Biologe und SPD-Politiker Klaus Mindrup war bis 2021 Abgeordneter des Bundes­tages und dort unter anderem Bericht­erstatter für das Klima­schutz­gesetz. Er tritt für eine rasche, dezentrale und bürgernahe Energie­wende ein. Zurzeit ist er beim Klima-Think­tank E3G in Washington tätig.

Die Kosten für den Betreiberkonzern EDF und seinen nach der Verstaatlichung alleinigen Eigentümer, den französischen Staat, explodieren gerade und stellen ein hohes wirtschaftliches Risiko dar. Spätestens seit der schweren Krise der Atomkraft in Frankreich sollte jedem klar sein, dass diese Form der Energieerzeugung keine Alternative ist.

Die Krise in Frankreich trifft auch Deutschland. Frankreich kauft massiv Strom in Deutschland ein. Da wir in der Bundesrepubik eine einheitliche Preiszone mit hohen Kapazitäten im Norden haben, ist davon auszugehen, dass der Strom vor allem im Norden eingekauft wird.

Physikalisch erreicht dieser Strom aber die französische Grenze nur zum Teil. Das hat wiederum zur Folge, dass Kraftwerke im Norden abgeregelt und im Süden angefahren werden müssen.

Da im Süden Deutschlands die Windkraft in den letzten Jahren deutlich zu wenig ausgebaut wurde, ist die Situation dort besonders angespannt und es müssen vor allem Erdgaskraftwerke in Betrieb genommen werden, die eigentlich nicht laufen sollten.

Dies bezahlen dann alle deutschen Stromkunden, die also auch unnötigerweise für das Versagen Frankreichs zur Kasse gebeten werden. Die Ergebnisse des am 5. September vorgestellten Strom-Stresstests bestätigen diese Analyse.

Unglaubliche Fehleinschätzungen etablierter Ökonomen

Es ist zu begrüßen, dass mit dem jetzt vorgestellten dritten Entlastungspaket die Regeln des Strommarktes verändert werden sollen, vorrangig europäisch, hilfsweise auch national.

Die bestehenden Regeln würden ohne Änderungen zu Mitnahme-Gewinnen in Höhe eines noch nicht exakt bezifferbaren, aber sicher zweistelligen Milliardenbetrages in den nächsten zwölf Monaten führen. Parallel steigen die zu leistenden Sicherheitszahlungen in schier unglaubliche Höhen, die in Kürze für viele Unternehmen nicht mehr tragbar sein werden.

Die Reaktionen einiger etablierter Ökonomen auf die Absicht, Zufallsgewinne durch Änderung der Regeln abzuschöpfen, können aber nacktes Entsetzen auslösen.

So behauptet Michael Hüther, der Chef des Instituts der Deutschen Wirtschaft, laut Spiegel Online, der Begriff der "Zufallsgewinne" würde nichts an der ordnungspolitischen Fragwürdigkeit ändern, diese umzuverteilen. Das Marktdesign für den europäischen Strommarkt habe gute Gründe, meint Hüther: Es ziele darauf ab, die Investitionen in erneuerbare Energien anzutreiben.

Die wirtschaftliche Realität sieht ganz anders aus. Das derzeitige Strommarktdesign ist nicht im Interesse der Erneuerbaren entwickelt worden. Auch hat niemand die aktuelle Preisexplosion im Blick gehabt. Deswegen ist das System nun auch so gekippt.

Kein mit seinem eigenen Vermögen haftender Unternehmer oder verantwortlicher Manager würde aufgrund des augenblicklichen Stromdesigns in neue erneuerbare Kraftwerke investieren. Dies geschieht vor allem auf Basis des Erneuerbare-Energien-Gesetzes oder für die Eigenversorgung. Oder auch – langsam zunehmend – auf der Basis langfristiger, bis zu zehn Jahre reichender Lieferverträge, sogenannter PPAs.

Nur auf dieser Basis sind die Erneuerbaren-Projekte kalkulierbar und damit finanzierbar.

Entlastungspaket darf nicht Erneuerbare belasten

Die im dritten Entlastungspaket angekündigte "umgekehrte EEG-Umlage" zielt auf die Erlöse von Kraftwerken, die ihren Strom am kurzfristigen Spotmarkt vermarkten. Das sind überwiegend Erneuerbaren-Anlagen oder die Kohlekraftwerke, die aus der Reserve wieder in den Betrieb genommen werden.

Bei der genauen Konstruktion der "umgekehrten EEG-Umlage" ist darauf zu achten, dass Investitionen in erneuerbare Energien betriebswirtschaftlich attraktiv bleiben. Deswegen muss der Vergütungsstopp bei negativen Strompreisen für Erneuerbare schon jetzt fallen.

Anderenfalls droht eine Situation, in der neue erneuerbare Kraftwerke nicht mehr oder nur mit hohen Risikozuschlägen finanziert werden. Schon jetzt sehen sich die Erneuerbaren großen Genehmigungs-Hindernissen gegenüber, die nun endlich wirklich beseitigt werden müssen.

Mit dem dritten Entlastungspaket hat die Koalition auch beschlossen, den nationalen CO2-Preis für Kraft- und Brennstoffe im kommenden Jahr nicht wie vorgesehen zu erhöhen. Das ist aus drei Gründen sehr kritisch zu sehen.

Erstens fließen die Einnahmen aus der CO2-Bepreisung nicht in den allgemeinen Steuerhaushalt, sondern über die Ausgaben des Energie- und Klimafonds an Bevölkerung und Unternehmen zurück.

Zweitens sollte der CO2-Preis einen verlässlichen Rahmen für Investitionen in Energieeinsparung und Erneuerbare bieten. Der Konsens bestand darin, mit einem sehr niedrigen CO2-Preis zu beginnen, aber über den gesetzlich verankerten Steigerungspfad deutlich zu machen, dass das fossile Zeitalter zu Ende geht. Diese entscheidende Botschaft wird nun abgeschwächt.

Drittens wird dem Eindruck Vorschub geleistet, die augenblickliche Preisentwicklung habe etwas mit Klimaschutz zu tun. Das bedient ein falsches Narrativ, einen Mythos.

Ein EU-weiter Preisdeckel für alle Erdgas-Importe

Ein weiteres Problem: Die konkreten Maßnahmen des neuerlichen Entlastungspakets zielen nicht auf den Erdgas-Markt.

Man stelle sich vor, der Preis für ein Brot würde von zwei Euro auf 30 Euro steigen – wie würde die Politik dann reagieren? Würde sie die Haushalte unterstützen, damit sie Brote für 30 Euro kaufen können? Nein, höchstwahrscheinlich würde die Regierung den Brotmarkt auf den Kopf stellen, um herauszufinden, was dort vor sich geht, und dort intervenieren.

Eine Intervention für den Gasmarkt hat jetzt Karsten Neuhoff vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin vorgeschlagen: einen europäischen Preisdeckel für alle Erdgas-Importe nach Europa. Dieser Eingriff würde die Volkswirtschaften in Europa massiv entlasten und indirekt auch auf die Strommärkte wirken.

Neuhoff zieht den Preisdeckel bei 50 Euro pro Megawattstunde Erdgas ein. Das würde die Flüssigerdgas-Importe in die EU um sechs Prozent gegenüber einem Szenario verringern, wo Preise von 300 Euro pro Megawattstunde akzeptiert werden. Die Folgen dieser reduzierten Importe sind für Neuhoff leichter zu verkraften als eine durch die exorbitanten Preise ausgelöste tiefe Wirtschaftskrise.

Von der aktuellen Situation profitiert vor allem der Aggressor Russland, indem die fossilen Einnahmen bei geringeren Exporten erheblich gestiegen sind und die EU zugleich in eine schwere Wirtschaftskrise gestürzt wird. Das wiederum senkt die Akzeptanz für Sanktionen in der Bevölkerung.

Daher ist der DIW-Vorschlag es wert, sehr intensiv diskutiert zu werden. Laut Presseberichten gibt es inzwischen in der EU auch Ansätze, über Erdgas-Preisdeckel zu sprechen. Der von Neuhoff skizzierte Ansatz ist jedoch weitgehender und systematischer. Umgangssprachlich ausgedrückt: Ein löchriger Deckel hilft nicht.

Eine EU-Industriestrategie für die Energiewende

Der große Vorteil eines Preisdeckels ist, dass wieder Berechenbarkeit in die Systeme kommt. Daran sollten die großen Gaslieferländer ebenfalls ein Interesse haben. Daher ist es nicht unwahrscheinlich, dass sie einen Deckel auch akzeptieren, allerdings wahrscheinlich mit einem höheren Preis, der auch aus Klimaschutzgründen Sinn macht.

Zudem würde der von Karsten Neuhoff vorgeschlagene Gaspreisdeckel auch die Inflation und in der Folge die Zinserhöhungen begrenzen. Steigende Zinsen belasten wiederum dringend erforderliche Investitionen in Wind, Sonne, Geothermie, Biomasse, Wasserstoff, Infrastruktur und Effizienz. Deswegen würde am Ende auch die Energiewende von einem Preisdeckel für fossiles Erdgas profitieren.

Parallel muss dieser Import-Preisdeckel von einer strengen Regulierung zur Einsparung von Erdgas und zur Umstellung auf Erneuerbare begleitet werden. Die EU hat die Potenziale, sich zu einem großen Teil selbst auf Basis erneuerbarer Energien zu versorgen.

Das ist zu verbinden mit einer klaren Industriestrategie in der EU und Deutschland. Neben dem klimafreundlichen Umbau bestehender Industrien gehört dazu zwingend der Ausbau industrieller Kapazitäten bei der Windenergie, der Wiederaufbau einer kompletten europäischen Solarstrom-Wertschöpfungskette und der Neuaufbau einer Wasserstoffindustrie.

Und nicht zuletzt: Deutschland sollte endlich – wie vom Bundestag in einem Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen gefordert – die Blockade gegen Energiegemeinschaften aufgeben und hier europäisches Recht umsetzen und so der Akzeptanz der Energiewende einen neuen Schub verleihen.

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