Logo des Betreibers EDF am Eingang des Atomkraftwerks Nogent-sur-Seine, im Hintergrund die beiden Kühltürme.
Dem staatlichen französischen Energiekonzern EDF wachsen die Probleme mit seiner alternden AKW-Flotte über den Kopf. (Foto: Olrat Bry/​Shutterstock)

Europa erlebt eine Energiepreiskrise historischen Ausmaßes. Auch in Deutschland eilen Großhandelspreise für Strom und Gas von Höchststand zu Höchststand.

Im Vergleich zum Vorjahr liegen die Steigerungen derzeit je nach Produkt bei Faktoren von vier bis sechs und darüber. Und obwohl diese Preise noch nicht mit voller Wucht auf die Verbraucher durchschlagen, sind Millionen Menschen und zehntausende Unternehmen unmittelbar und hart betroffen, bis hin zu existenziellen Fragen.

Kein Wunder, dass über die Ursachen dieser Krise sehr laut und vielstimmig diskutiert wird, ebenso über mögliche Auswege.

Umso erstaunlicher ist dabei, dass ein Elefant im Raum es schafft, in der öffentlichen Diskussion weitgehend unbemerkt zu bleiben.

Auch wenn der russische Krieg gegen die Ukraine und die in der Folge gedrosselten Gaslieferungen entscheidend auf die Gas- und Wärmepreise wirken – die Strompreise werden von anderen Faktoren dominiert.

Das zeigt ein Blick auf die Mechanismen des Strommarktes. Gaskraftwerke machten bisher etwa 15 Prozent der deutschen Stromerzeugung aus. Aufgrund ihrer Flexibilität werden sie vor allem eingesetzt, um die Zeiten mit hohem Stromverbrauch, die Lastspitzen, abzudecken.

In diesen Zeiten setzen sie aufgrund des Merit-Order-Effekts den Preis am Markt. Hohe Gaspreise wirken also auf die Strompreise vor allem zu diesen Spitzenlastzeiten.

Der Gaspreis erklärt nicht, warum auch die Preise für die durchlaufende Stromlast, die sogenannten "Base"-Preise, im selben Maße gestiegen sind. Hier setzen Grundlastkraftwerke den Preis. Das sind Atomkraftwerke, aber auch Braunkohle- und Wasserkraftanlagen.

Und hier steht dann auch der Elefant: die strukturelle Krise der Atomkraft in Frankreich.

Frankreich: Vom Selbstversorger zum Importeur

Seit Jahren hat Frankreich Probleme mit seinen 58 Atomkraftwerken. Von der installierten Erzeugungskapazität von 63.000 Megawatt sind zurzeit nur 27.000 Megawatt oder 44 Prozent verfügbar.

Erzeugten die französischen AKW in den Jahren vor 2015 stets eine Strommenge von mehr als 400 Milliarden Kilowattstunden, ist diese Zahl 2020/21 auf etwa 350 Milliarden gesunken. Für das laufende Jahr rechnet der Betreiber EDF nur noch mit rund 300 Milliarden Kilowattstunden. Diese Angabe stammt allerdings aus einer Zeit noch vor den aktuellen Hitzewellen und notwendigen weiteren Drosselungen aufgrund von Kühlwassermangel.

Die Probleme mit Frankreichs Atommeilern sind strukturell und langwierig. Denn neben den üblichen Wartungsarbeiten im Sommer sind bereits zwölf Atomkraftwerke und damit mehr als jedes fünfte seit Längerem aufgrund von Korrosionsproblemen außer Betrieb, also aus Sicherheitsgründen. Ob und bis wann die Kraftwerke überhaupt ertüchtigt werden können, ist unklar.

Tim Meyer

hat Elektro­technik studiert und am Fraunhofer-Institut für Solare Energie­systeme (ISE) promoviert. Nach Tätigkeiten in der Fraunhofer-Gesellschaft, der Industrie und als Gründer im Solar­strom­markt war er zuletzt Vorstand bei der Natur­strom AG. Heute ist er als Berater und Interims­manager für Energie­unter­nehmen tätig.

Die Folge all dieser Ausfälle: Frankreich wird im immer größeren Stil zum Importeur von Strom – auch aus Deutschland. Die nach wie vor zu hörende Behauptung, Deutschland würde durch seinen Atomausstieg die Produktion von Atomstrom ins Ausland und insbesondere nach Frankreich verlagern, ist schlicht falsch.

Zwar war Deutschland auch schon in den letzten Jahren Netto-Stromexporteur nach Frankreich, doch zuletzt haben sich die Exporte massiv ausgeweitet. Lagen diese 2020 noch bei 1,6 Milliarden Kilowattstunden, stiegen sie 2021 auf 6,5 Milliarden an und liegen laut Fraunhofer ISE aktuell bereits bei über zehn Milliarden Kilowattstunden im Jahr 2022.

Selbst wenn einige der ausgefallenen Reaktoren reaktiviert werden können: Mit einem Durchschnittsalter von mehr als 35 Jahren sind französische Atomreaktoren keine zuverlässige und günstige Quelle europäischer Stromproduktion mehr.

Für die neuen EPR-Reaktoren gibt es derzeit kein verbindliches Datum für ihre Inbetriebnahme. Von den bis zu sechs in Frankreich geplanten Reaktoren sollte der erste, Flamanville 3 mit einer Leistung von 1.650 Megawatt, ursprünglich 2012 ans Netz gehen und 3,4 Milliarden Euro kosten. Zuletzt hatte EDF eine Inbetriebnahme für Mitte 2023 in Aussicht gestellt und Baukosten um 12,5 Milliarden Euro genannt.

Es gibt Schätzungen, wonach es zehn bis 20 Jahre dauern könnte, bis Frankreich seinen Strombedarf wieder vollständig selbst decken kann.

Die Zeiten, in denen Frankreich der größte Netto-Stromexporteur Europas war, werden also so schnell nicht wiederkehren.

Die Entscheidung der französischen Regierung, EDF komplett zu verstaatlichen, kann deshalb auch als Reaktion auf die strukturelle Krise der französischen Energieversorgung gelesen werden.

Wie Atomkraft Klimaschutz ausbremst

Doch zurück zu den Energiepreisen. In Frankreich sind vor dem Hintergrund die Großhandelspreise für Strom noch stärker gestiegen als anderswo und liegen derzeit um bis zu zehn Cent je Kilowattstunde über den Preisen in Deutschland.

Das Atomland Frankreich hat heute die höchsten Strompreise in ganz Europa. Und es füllt seine Lücke auch durch die verstärkte Nutzung seiner Gaskraftwerke – mit Gasimporten unter anderem aus Deutschland.

Angesichts dessen wird noch unverständlicher, auf welcher Faktenbasis einige Stimmen die Atomkraft auch für Deutschland als Teil der Lösung sehen wollen.

Ende letzten Jahres wurden die drei AKW Brokdorf, Grohnde und Gundremmingen 2 abgeschaltet. Der Wegfall dieser Leistung konnte in Deutschland aufgefangen werden – und zusätzlich waren noch die Stromexporte nach Frankreich möglich.

In Zahlen: Die genannten drei Atomkraftwerke lieferten 2021 zusammen noch rund 32 Milliarden Kilowattstunden Strom oder 6,5 Prozent der gesamten deutschen Erzeugung. Der Ausfall dieser Mengen wurde jedoch vor allem durch den Ausbau der erneuerbaren Energien ausgeglichen.

Mehrere Hochspannungsmaste auf einem Feld bei heiterem Himmel, am Horizont ein Kraftwerk.
Heute fließt mehr Strom von Deutschland nach Frankreich als umgekehrt. (Foto: Huang Zheng/​Shutterstock)

Im ersten Halbjahr dieses Jahres, in dem die drei abgeschalteten AKW sonst planmäßig 16,2 Milliarden Kilowattstunden erzeugt hätten, stieg die erneuerbare Stromproduktion um 11,9 Milliarden Kilowattstunden, aber auch die Steinkohle wurde um etwa acht Milliarden Kilowattstunden hochgefahren.

Im ersten Halbjahr hat Deutschland seinen Netto-Stromexport im Vergleich zum Vorjahr nahezu verdoppelt und war mit über 15 Milliarden Kilowattstunden nach Schweden sogar der zweitgrößte Stromexporteur.

Die heutige Situation könnte man also umgekehrt so zuspitzen, dass die Probleme mit der französischen Atomkraft den deutschen Klimaschutz ausbremsen.

Das europäische Stromsystem ist hochgradig vernetzt. Auch die Märkte sind dadurch indirekt gekoppelt. Daher wirken neben den Engpässen in Frankreich und den hohen Gaspreisen noch eine ganze Reihe weiterer Faktoren auf den Strompreis in Deutschland – von hitzebedingt gestiegener Nachfrage und reduziertem Wasserkraftaufkommen über gestiegene Kohlepreise und Transportengpässe bis zur krisenbedingt überreizten Psychologie der Märkte.

Fazit: Das Problem der französischen Atomkraft als ein entscheidender Preistreiber und Unsicherheitsfaktor muss viel breiter ins Bewusstsein dringen. Es gibt viel zu viel zu tun und zu entscheiden, als dass wir uns mit Nebelkerzen und Scheindebatten über ein Wiederaufleben der deutschen Atomkraft beschäftigen können.

Der Beitrag wurde am 31. August korrigiert (Angaben zum Netto-Stromexport von Deutschland nach Frankreich).

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