Zwei Blöcke eines Erdgaskraftwerks mit Kühltürmen bei Sonnenuntergang.
Erdgasbefeuertes Industriekraftwerk in Duisburg: Auf die Sektoren außerhalb der Stromerzeugung kommt es jetzt besonders an, sagt Karsten Neuhoff. (Foto: Ralf Meditec/​Flickr)

Klimareporter°: Herr Neuhoff, weil die Konjunktur nach der Pandemie gut läuft, der Ausbau der erneuerbaren Energien lange Zeit stockte und wegen hoher Erdgaspreise auch wieder mehr Kohlestrom genutzt wird, gehen viele Experten davon aus, dass Deutschland die Ziele des Klimaschutzgesetzes für 2021, 2022 und vielleicht noch 2023 verpassen wird. Wie ist Ihre Prognose?

Karsten Neuhoff: Die aktuell drastischen Preisanstiege bei Erdgas und anderen fossilen Energieträgern führen zunächst einmal in allen Sektoren dazu, dass Energie sparsamer eingesetzt wird und dadurch Emissionen eingespart werden.

Zugleich ist der Energiebedarf für Landwirtschaft und Gebäudewärme kaum und der im Verkehr nur moderat von der Konjunktur abhängig.

Damit wird es, was die Klimaziele in diesem und den kommenden Jahren betrifft, vor allem im Stromsektor spannend. Dieser unterbot 2020 sein Sektorziel um 20 Prozent – auch wegen Corona und windstarker Monate. Spannend für 2021 bleibt, wie stark die Kohleverstromung noch zum Jahresende ansteigt.

Insgesamt gehe ich davon aus: Wenn Gesellschaft und Regierung Klimaschutz ernst nehmen, dann werden in den kommenden Jahren die meisten Klimaziele erreicht.

Der drastische Kostenanstieg für Energie zieht Forderungen nach sich, die Preise zu deckeln oder staatliche Preisanteile, darunter den CO2-Aufschlag, zu senken oder auszusetzen, obwohl sie für die aktuelle Teuerung gar nicht verantwortlich sind. Ist es nicht kontraproduktiv, bei einem solchen Preisausschlag auf den Energiemärkten an der Klimapolitik herumzuschrauben?

Vor allem hohe Gaspreise haben dazu beigetragen, dass die Strompreise gestiegen sind. Würden wir jetzt den CO2-Preis aussetzen, würden deswegen die Strompreise noch nicht aufs frühere Niveau fallen. Aber staatliche Einnahmen aus dem Emissionshandel würden entfallen und zudem würden Kohlekraftwerke die hohen Strompreise bezahlt bekommen, ohne für CO2-Kosten aufkommen zu müssen – also sehr hohe Gewinne machen.

Eine Absicherung gegen volatile Energiepreise klappt mit langfristigen Verträgen. Früher waren die Preise für Gasimporte in Langfristverträgen an den Ölpreis gekoppelt und nach oben und unten abgefedert.

So hatten Gaslieferanten keine Anreize, die Produktion zu reduzieren, um Preise, Margen und Profite zu maximieren. Diese Langfristverträge wurden dann aber – auf Drängen der Politik – umgewandelt in Verträge, die sich am kurzfristigen Gaspreis orientieren. Damit ging die Absicherung gegen Preisschocks und Marktmacht verloren.

Noch verrückter ist: Der Staat fördert seit zwei Jahrzehnten den Ausbau der Erneuerbaren. Die Investoren wurden dabei – zu Recht – gegen das Risiko geringer Strompreise abgesichert.

Mit dem starken Strompreisanstieg machen die Projektbesitzer jetzt unerwartete – also auch für die ursprüngliche Investitionsentscheidung kaum relevante – zusätzliche Gewinne. Wäre es nicht fair, im Gegenzug zur Absicherung der Investoren gegen geringe Strompreise auch Stromkunden gegen Risiken hoher Strompreise abzusichern?

Wie kann das klappen?

Eine Windanlage zum Beispiels würde dann in Zeiten hoher Strompreise einen Teil der Erlöse an die Stromkunden zurückgeben. Länder wie Großbritannien haben dazu bereits die Vergütung der Erneuerbaren auf sogenannte Differenzverträge, Contracts of Difference, umgestellt.

Die letzte Bundesregierung sperrte sich allerdings gegen deren Einführung in Deutschland. Das wäre aber energie- sozial- und wirtschaftspolitisch sinnvoll.

Von diesen historischen Fehlentscheidungen sind kurzfristig Haushalte mit geringen Einkommen besonders stark  betroffen. Für sie könnten drastische Kostenanstiege, insbesondere für Haushalte in schlecht gedämmten Wohnungen, gezielt abgefedert werden. Daran gekoppelt, könnte dann gleich die Planung für eine energetische Gebäudesanierung angestoßen werden, um künftige Kostenschocks zu minimieren.

Mit dem Klimaschutzgesetz, in dem die Sektorziele festgehalten sind, befassen sich die Parteien, die gerade über eine Ampel-Koalition verhandeln, in ihrem Sondierungspapier. Danach sollen zwar künftig die Sektoren wie Energie, Verkehr, Industrie, Gebäude und Landwirtschaft weiter ihre gesetzlichen Einsparbeiträge leisten, die Einhaltung der Ziele soll aber anhand einer "sektorübergreifenden, mehrjährigen Gesamtrechnung" überprüft werden. Können sich damit nicht weiterhin einzelne Sektoren klimapolitisch zurückhaltenauf Kosten anderer?

Diese Diskussion gibt es schon seit Jahrzehnten. Einige Akteure sind skeptisch, dass der Staat auf der Sektorenebene gute Klimapolitik gestalten kann. Sie setzen stattdessen ihre Hoffnung auf die Wirksamkeit eines umfassenden CO2-Preises.

Das kann auch daher kommen, dass die meisten ökonomischen Modelle für Emissionsminderungen vor allem die Wirkung von CO2-Preisen abbilden. In solchen vereinfachten ökonomischen Modellen sind Lösungen dann effizient, wenn der CO2-Preis seine Wirkung frei entfalten kann. Sprich, in solch einem Modell sind andere politische Strategien nicht willkommen.

Porträtaufnahme von Karsten Neuhoff.
Foto: Florian Schuh

Karsten Neuhoff

Der Klimaökonom Karsten Neuhoff ist Professor für Energie- und Klimapolitik an der TU Berlin. Seit 2011 leitet er die Abteilung Klimapolitik am Deutschen Institut für Wirtschafts­forschung (DIW) in Berlin. Neuhoff studierte Physik und Ökonomie und promovierte in National­ökonomie an der Universität Cambridge.

Dieser Fokus allein auf den CO2-Preis könnte auch erklären, warum der neu eingeführte CO2-Preis im Verkehr als ein so großer Erfolg gefeiert wird. Aktuell beträgt er 25 Euro je Tonne CO2. Dadurch stieg der Benzinpreis um acht Cent pro Liter an.

Zurzeit wird diskutiert, den CO2-Preis für Treibstoffe schrittweise zu erhöhen. Aber selbst bei einem Preis von 75 Euro würde Benzin "nur" um 25 Cent pro Liter teurer. Reicht das aus für eine erfolgreiche Verkehrswende?

Für einen erfolgreichen Übergang zur Klimaneutralität reicht in keinem Sektor der CO2-Preis allein aus. Es gilt, überall auch die regulatorischen Rahmenbedingungen weiterzuentwickeln, regulatorische Risiken abzufedern und gezielte Programme aufzulegen.

Wie aber sollen diese Maßnahmen unter Federführung des jeweiligen Ministeriums gestaltet und umgesetzt werden, wenn keine klaren Ziele für den Sektor definiert werden?

Das DIW plädiert in einer jetzt veröffentlichten Analyse dafür, neben dem Festlegen von Emissionsminderungszielen für die einzelnen Sektoren weitere Messgrößen – sogenannte Frühindikatoren – zu definieren und ins Klimagesetz aufzunehmen. Sonst könnten Verzögerungen und Fehlentwicklungen nicht früh genug erkannt werden. Wie sollen diese Indikatoren aussehen und was können sie bewirken?

Für jeden der großen Sektoren sollten mit den Indikatoren die langfristig wichtigen Entwicklungen abgedeckt werden. Im Gebäudebereich beispielsweise müssen alle Gebäude künftig gut wärmegedämmt sein, damit die verfügbare erneuerbare Energie dann auch fürs Heizen reicht.

Ein Frühindikator könnte hier sein, welcher Anteil der Gebäudeoberfläche jedes Jahr umfassend energetisch saniert wurde.

So wird schnell sichtbar, ob das zuständige Ministerium die notwendigen Rahmenbedingungen geschaffen hat – für die Qualifikation im Baugewerbe, die Anpassung der Gebäudestandards, für Förderprogramme oder die Einbindung von Mietern in Sanierungsprozesse. Bisher gibt es ja nicht einmal eine anerkannte Statistik zur Sanierungsrate.

Ein Frühindikator könnte durch Umfragen oder eine zentrale Datenbank für Energieausweise geschaffen werden. So ließe sich ein klares Sanierungsziel definieren.

Jede Referent:in im Ministerium weiß dann: Es ist wichtig Rahmenbedingungen zu schaffen, die der energetischen Gebäudesanierung förderlich sind, damit die Minster:in erfolgreich ist. Das hilft, die vielen kleinen Widerstände zu überwinden und auch mal alte Zöpfe abzuschneiden.

Die vorgeschlagenen Frühindikatoren zeigen doch aber auch, dass Klimaschutz nicht nach Jahresscheiben und Sofortprogrammen funktioniert. 2020 hatte ja der Gebäudesektor sein Budget um einige Millionen Tonnen CO2 überzogen. Entsprechend mussten Wirtschafts- und Innenministerium ein Sofortprogramm vorlegen.

Um dieses entbrannte ein scharfer Streit, weil das Programm mit ziemlicher Sicherheit das Budget in der kurzen Zeit nicht ausgleichen würde. Die betroffenen Ministerien wiesen aber darauf hin, das sei in einem "trägen" Sektor wie Gebäude kaum möglich ist. Zudem erlaube das Klimagesetz auch einen Ausgleich über mehrere Jahre. Wie kann so ein Problemknoten gelöst werden?

Jedes Unternehmen setzt sich klare Ziele – auf Ebene des ganzen Unternehmens sowie auch für die einzelnen Einheiten. Natürlich werden da auch mal Ziele verfehlt. Was passiert dann?

Bei Unternehmen fragen Aktionäre oder bei kleineren Zielen die übergeordneten Ebenen nach: Was ist schiefgelaufen? Wie wird gegengesteuert? Und wie werden Wiederholungen vermieden?

So ähnlich ist auch das Klimaschutzgesetz als eine Art Management-Tool für transparente und verantwortliche öffentliche Entscheidungen zu sehen.

Steigen im Stromsektor während einer Gaskrise die Emissionen, dann wird zunächst gefragt, ob die Energieversorgung sichergestellt und sozial abgefedert wird. Die zweite Frage ist dann, ob längerfristig tragfähige Lösungen für die aufgeworfenen Probleme gefunden wurden. Hier kommen die Frühindikatoren zur Geltung.

Wenn die Regierung mithilfe der Frühindikatoren zeigen kann, dass der Ausbau erneuerbarer Energien sowie die Flexibilisierung des Energiesystems weiter erfolgreich vorangebracht wurden, dann wird auch akzeptiert werden, wenn ein Sektorziel mal verfehlt wird.

Ist es nicht eine Fehlkonstruktion im Klimagesetz, die Sektoren so scharf zu trennen? Werden dadurch nicht sektorübergreifende Lösungen – man denke an den Einsatz von Ökostrom und grünem Wasserstoff in Industrie, Gebäuden oder Verkehr – ignoriert und möglicherweise falsche Prioritäten gesetzt?

Das Klimaschutzgesetz hat bereits dazu beigetragen, dass Forschung, Politik und Gesellschaft nicht mehr nur den Übergang zur Klimaneutralität im Stromsektor, sondern auch in den anderen Sektoren betrachten. Für alle Sektoren werden jetzt Entwicklungspfade und die notwendige Politik diskutiert.

Das Klimaschutzgesetz schafft einen Rahmen, um diese Entwicklungspfade nebeneinanderzustellen. So konnte der Bedarf an Wind- und Solarenergie erkannt werden. Zugleich werden auch die Grenzen des Ausbaus von Wind- und Solarenergie sowie von Biomasse greifbar – und motivieren dazu, in allen Sektoren einen stärkeren Fokus auf Material- und Energieeffizienz, Recycling, und Wärmedämmung zu legen.

Die auf Sektorebene definierten Ziele sind dabei nicht in Stein gemeißelt. Corona hat uns gezeigt, wie schnell Impftechnologien, staatliche Rahmenbedingungen und private Verhaltensmuster sich ändern können. Für den Klimaschutz bedeutet das, dass in manchen Sektoren die Transformation schneller und einfacher als heute erwartet möglich sein, in anderen schwieriger.

Dann gibt es natürlich die Möglichkeit, die Ziele zwischen den Sektoren leicht anzupassen. Diese Koordination über Sektoren hinweg war bisher eine wichtige Funktion des Klimakabinetts.

Wichtig bleibt, besonders für das Vertrauen privater Investoren, dass hier nur bei der Geschwindigkeit zwischen den Sektoren ein Ausgleich gefunden wird – und wir weiterhin in allen Sektoren abgestimmt den Weg zur Klimaneutralität beschreiten.

Wäre es nicht sinnvoller, sich zunächst auf die Dekarbonisierung der Energiewirtschaft zu konzentrieren, also vor allem bis 2030 aus der Kohleverstromung auszusteigen? Damit könnte doch den anderen Sektoren Zeit "gekauft" werden, um dort wirklich durchdachte und klimaneutrale Konzepte umzusetzen und nicht von einem hektischen Sofortprogramm ins andere zu stolpern.

Die Energiewirtschaft verursacht nur knapp 30 Prozent der deutschen Treibhausgasemissionen – nimmt aber gefühlt im öffentlichen Diskurs immer noch eine viel größere Rolle ein.

Es ist höchste Zeit, dass Industrie, Verkehr, Gebäude und Landwirtschaft die volle öffentliche Aufmerksamkeit bekommen. Nur so kann und wird die Politik in den jeweiligen Sektoren den Rahmen für einen Übergang zur Klimaneutralität schaffen. Darauf wartet zum Beispiel die Industrie jetzt schon länger.

Deswegen sind jetzt Ziele, Pfade, und Frühindikatoren für diese Sektoren so wichtig. Sie ermöglichen eine öffentliche und politische Diskussion, was wir als Gesellschaft und Volkswirtschaft erreichen wollen.

Wenn wir die Rahmenbedingungen hier nicht gestalten, können wir mit unseren wirtschaftlichen und technologischen Stärken weder zum weltweiten Klimaschutz beitragen noch an den Zukunftsmärkten teilnehmen.

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