Das Bild zeigt das Gaskraftwerk in Irsching, im Vordergrund ein Feld.
Eine Vielzahl neuer Gaskraftwerke, ähnlich dem in Irsching bei Ingolstadt, hält die Studie für eine Energiewende in Deutschland für notwendig. (Foto: Zonk43/​Wikimedia Commons)

Für jede der Parteien, die gerade für eine sogenannte Ampel-Koalition sondieren, hält die am Donnerstag vorgelegte neue Dena-Leitstudie mit dem Titel "Aufbruch Klimaneutralität" etwas Passendes parat.

Die Grünen können sich freuen, dass ihre Forderungen nach einem massiven Ausbau der erneuerbaren Energien und auch zur Verkehrswende durch die von der Deutschen Energieagentur (Dena) versammelte Expertengemeinde bekräftigt werden.

Die FDP kann mit der starken Rolle zufrieden sein, die Erdgas und grüner Wasserstoff, aber auch blauer Wasserstoff mit CCS schon 2030 spielen sollen. Und die SPD darf sich glücklich schätzen, dass die Studie nicht explizit einen Kohleausstieg bis 2030 verlangt.

Gut werden wohl SPD, Grüne und FDP gleichermaßen die Hinweise der Studienautoren finden, dass die Transformation nur mit den Bürgern zusammen gelingen kann und sozial gerecht ausgestaltet werden muss. Dabei komme es auch auf eine Förderung von "Energy Communitys" an. Die Rolle der Prosumer – der Leute also, die Strom selbst erzeugen und verbrauchen – soll nach dem Willen der Autoren ebenfalls gestärkt werden.

Kein "Weiter so" bei der Energiewende

Die potenziellen Koalitionäre werden auch nichts gegen die Wertung von Dena-Chef Andreas Kuhlmann haben, es könne kein "Weiter so" bei der Energiewende geben. Diese müsse ebenso wie die Klimapolitik besser organisiert und vom "Klein-Klein" vergangener Jahre befreit werden. An die Jahrhundertaufgabe, so der Dena-Chef, müsse man grundlegend anders herangehen.

Die Studie bekräftigt zunächst, was Experten seit Wochen vorrechnen: Die im Klimaschutzgesetz festgelegten Einsparziele für die Jahre 2021, 2022 und wohl auch 2023 werden "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht erreicht". Zu viel sei dazu in den letzten Jahren liegen geblieben. Auch stünden die gegenwärtigen gesetzlichen Regelungen einem effizienten Handeln entgegen.

Es bleibt laut der Studie bei den großen Trends: Das Tempo der CO2-Minderung muss sich ungefähr verdreifachen. Zunächst werden Öl und Kohle, später auch Erdgas durch Strom ersetzt sowie vor allem durch grünen, also mit erneuerbarem Strom produzierten Wasserstoff. Am Ende, um 2045, soll Ökostrom etwa die Hälfte des Bedarfs an Primärenergie decken.

Die Stromerzeugung steigt dabei bis 2030 auf knapp 700 Milliarden Kilowattstunden. Das sind etwa zehn Prozent mehr als heute und auch deutlich mehr, als das Bundeswirtschaftsministerium zuletzt für 2030 mit etwa 655 Milliarden Kilowattstunden voraussagte.

2045 noch 38 Millionen Pkw auf den Straßen

Das Ausbautempo der Erneuerbaren muss dazu bis 2030 verdoppelt und danach vervierfacht werden. So veranschlagt die Studie beispielsweise für Windkraft auf See einen Ausbau auf 23.000 Megawatt bis 2030, 3.000 Megawatt mehr, als die jetzigen Planungen der Regierung vorsehen.

Balkendiagramm: Bis 2050 sollen Erdöl und Erdgas durch Strom und Wasserstoff ersetzt werden.
So soll sich Deutschlands Energiemix bis 2050 entwickeln. Angaben in Terawattstunden (Milliarden Kilowattstunden). (Grafik: aus der Dena-Leitstudie; Daten: EWI, ITG/FIW, Öko-Institut)

Der Offshore-Windkraft weist die Leitstudie wegen ihrer Verfügbarkeit eine vorrangige Rolle zu. Bis 2045 muss praktisch jedes geeignete Meeresfleckchen mit Windparks bebaut werden, um am Ende eine Kapazität von 50.000 Megawatt zu erreichen.

Wie derzeit sollen 2030 noch rund 46 Millionen Pkw auf den Straßen unterwegs sein, davon aber schon 14 Millionen batteriebetriebene. Bis 2045 soll die Pkw-Zahl dann auf 38 Millionen sinken, von denen dann nur noch fünf Millionen keine E-Autos sein sollen. Auch der Anteil der Pkw-Mobilität am Personenverkehr soll sinken – von heute 80 auf 60 Prozent.

Zu den umstrittenen Teilen der Studie wird das Kraftwerkskonzept gehören. Zwar wird ein beschleunigter und vor allem vom Markt getriebener Kohleausstieg erwartet. Im Hauptszenario sollen aber 2035 noch rund 3.000 Megawatt Steinkohle-Blöcke laufen, vor allem als sogenannte Backup-Kraftwerke, um die Stabilität des Stromnetzes zu sichern.

15.000 Megawatt neue Gaskraftwerke

Und nicht nur die Steinkohle bleibt bis 2035: Noch problematischer erscheint vielen Fachleuten die Rolle, die dem Erdgas in der Studie zugewiesen wird. Bis 2030 soll die Verstromung des fossilen Brennstoffs sogar noch um 60 Prozent ansteigen.

In den kommenden Jahren könnten dazu bis zu 15.000 Megawatt neue Gaskraftwerke gebaut werden, die zwar technisch auch Wasserstoff nutzen könnten – im Fachdeutsch also "H2-ready" sind –, für die aber in der Praxis kein klimaneutraler Brennstoff verfügbar sein wird.

Denn laut der Studie bleibt die Erzeugung grünen Wasserstoffs mit 70 Milliarden Kilowattstunden im Jahr 2030 sogar hinter dem Ziel der Bundesregierung – 100 Milliarden Kilowattstunden – zurück. Und dieser Wasserstoff wird, wie viele Experten ebenso voraussagen, vor allem in die Stahl- und Chemiebranche gehen.

Die 15.000 Megawatt neuer Gaskraft werden also, wie auf Nachfrage eingeräumt wurde, im Jahr 2030 in der Hauptsache Erdgas nutzen. Im Gebäudesektor soll Erdgas sogar erst ab 2040 durch Wasserstoff ersetzt werden. 2045 sollen noch nahezu acht Millionen Heizungen mit Gas verschiedener Herkunft betrieben werden.

In einem solchen Szenario ist Klimaneutralität nur zu erreichen, wenn 2045 mehrere Millionen Tonnen an "negativen CO2-Emissionen" erzielt werden, wie die Studie auch vorschlägt. Den Autoren schweben hierzu unter anderem Biomasse- und Müllkraftwerke vor, deren CO2-Ausstoß dann per CCS unterirdisch gespeichert wird.

Auch natürliche Senken wie Wälder müssten dann 2045 deutlich mehr CO2 binden. Um das zu erreichen, schlägt die Studie unter anderem vor, Ackerflächen in klimaresistente Laub- und Mischwälder umzuwandeln. Unter diesen Voraussetzungen verzichtet die Studie auf eine großtechnische CO2-Abscheidung wie das sogenannte Direct Air Capture.

Früherer Kohleausstieg nicht ausgeschlossen

Einen deutlich früheren Kohleausstieg – 2030 statt wie beschlossen 2038 – hält die Studie für möglich. Dena-Chef Kuhlmann betonte auf Nachfrage, aus betriebswirtschaftlichen Gründen sehe man "auf jeden Fall" einen Kohleausstieg bis 2030 auf Deutschland zukommen. Dazu seien aber zusätzliche Anforderungen etwa bei der Wärmeversorgung und beim Netzausbau erfüllen.

Kuhlmann weiter: "Es geht nicht einfach darum, abzuschalten." Am schlimmsten sei es, zu sagen, der Kohleausstieg komme sowieso, aber nicht darauf eingestellt zu sein.

Die starke Position von Erdgas wird zweifellos schon bestehende Bedenken beleben, die bei den Dena-Studien lobbyistische Einflüsse vermuten. Die neue Leitstudie wurde, so Kuhlmann am Donnerstag, zu 30 Prozent von der bundeseigenen Dena selbst finanziert. Die restlichen 70 Prozent seien von den Industriepartnern bezahlt worden, jeweils mit Anteilen zwischen 1,5 und zwei Prozentpunkten.

Vertraglich sei dabei klar gesichert, dass die Unabhängigkeit der Dena und der anderen beteiligten Institute respektiert wird, betonte Kuhlmann. Insgesamt waren nach den Angaben über 70 Projektpartner, ein 45-köpfiger Projektbeirat sowie mehr als zehn renommierte Institute als Gutachter beteiligt.

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