Anfang Februar hatte Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) erstmals öffentlich eingelenkt. Der Stromverbrauch im Jahr 2030 werde nicht – wie im frisch novellierten Erneuerbare-Energien-Gesetz festgeschrieben – bei 580 Terawattstunden liegen, sondern möglicherweise auch höher, räumte der Minister damals ein.
Die 580er Prognose seines Ministeriums werde von vielen als "zu vorsichtig" angesehen, sagte Altmaier damals und zeigte sich bereit, darüber zu debattieren, ob dem EEG 2021 ein zu niedriger, zu hoher oder genau der richtige Stromverbrauch zugrunde gelegt worden sei.
An der Zahl 580 ließ die Koalition lange Zeit ungern rütteln, ist sie doch der Maßstab für eines der sogenannten 65-Prozent-Ziele: das Versprechen, dass 2030 knapp zwei Drittel des Stroms aus erneuerbaren Quellen in den Markt kommen, vor allem von Wind und Sonne. Und die Mathematik sagt: Je niedriger der Stromverbrauch, desto weniger Ökostrom wird 2030 gebraucht und umso weniger müssen sich die Regierenden mit den Ausbauproblemen herumschlagen.
Fast ein halbes Jahr und ein neues, aber noch unfertiges Gutachten später lenkt der Minister nun endgültig ein. Das neue Klimaschutzgesetz und die neuen Klimaziele, die Bundestag und Bundesrat Ende Juni verabschiedet haben, erforderten eine "Anpassung unserer Analysen" zum Stromverbrauch im Jahr 2030, teilte Altmaier am Dienstag mit.
Auch das neue Klimaziel der EU für 2030 mit einer CO2-Reduktion um 55 Prozent gegenüber 1990 habe eine Rolle gespielt, erklärte der Wirtschaftsminister.
Klimagesetz und EU-Ziele taugen als Begründung wenig
Neue Abschätzungen durch das Beratungsunternehmen Prognos im Auftrag des Ministeriums kommen Altmaier zufolge auf einen Stromverbrauch von 645 bis 665 Terawattstunden im Jahr 2030. Der Mittelwert der Prognose liege bei 655 Terawattstunden.
Zu den dabei getroffenen Annahmen gehört der Betrieb von 14 Millionen Elektroautos und sechs Millionen Wärmepumpen. 30 der 655 Terawattstunden sollen für grünen Wasserstoff da sein.
Kaum mehr als ein halbes Jahr nach Verabschiedung des EEG 2021 korrigiert Altmaier damit seine Prognose um nicht weniger als zwölf Prozent nach oben. Das neue Klimagesetz und das höhere EU-Klimaziel taugen allerdings nur bedingt als Begründung dafür, dass die Zahl gleich um ein Achtel hochgesetzt wird.
Schon 2020, als eine Verschärfung von Klimagesetz und EU-Ziel noch gar kein Thema war, sagte das Energiewirtschaftliche Institut der Uni Köln (EWI) für 2030 sogar einen Stromverbrauch von rund 750 Terawattstunden voraus.
Entsprechend fallen die Reaktionen der Branchenverbände an Altmaiers neuer Verbrauchsprognose aus. Die Spanne von 645 bis 665 Terawattstunden werde "weiterhin nicht dem Markthochlauf von Sektorenkopplungstechnologien gerecht", bemängelt Simone Peter, Präsidentin des Bundesverbands Erneuerbare Energie (BEE). Die Sektorenkopplung soll vor allem die Problemsektoren Wärme und Verkehr einbinden.
Je länger mit dem beschleunigten Ausbau der Erneuerbaren gewartet werde, desto eher drohe eine Ökostromlücke, mahnte Peter. "Spätestens ein erstes 100-Tage-Programm einer neuen Bundesregierung muss den Erneuerbaren-Turbo in allen Sektoren und für die Sektorenkopplung einschalten."
Ökostromerzeugung muss sich bis 2030 verdoppeln
Für Kerstin Andreae, Chefin des Energiebranchenverbandes BDEW, ist die vom Minister vorgenommene realistischere Prognose des Strombedarfs längst überfällig. Dass mehr Strom benötigt wird, wenn Millionen E-Autos und Wärmepumpen eingesetzt werden und immer mehr grüner Wasserstoff produziert wird, sei nichts Neues, sagte Andreae. "Die Bundesregierung hätte ihre Prognose schon viel früher anpassen können."
Der BDEW geht zurzeit von einem Strombedarf von etwa 700 Terawattstunden für 2030 aus, allerdings mit einem Ökostrom-Anteil von 70 Prozent. Das sind rechnerisch rund 490 Terawattstunden erneuerbarer Strom.
Genauso viel Ökostrom hält auch der Erneuerbaren-Verband BEE zum Ende des Jahrzehnts für notwendig. Zwar liegt seine Prognose für den Stromverbrauch noch höher als die des BDEW, der BEE sieht aber 2030 die Erneuerbaren erst bei einem 65-Prozent-Anteil.
So oder so gilt: Die Erzeugung von erneuerbarem Strom in Deutschland muss sich von knapp 250 Terawattstunden im Jahr 2020 dann bis 2030 in etwa verdoppeln.
Auch für Claudia Kemfert, Energieökonomin beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), rechnet die Regierung "noch immer mit einem zu geringen Strombedarf". Die jetzt erhöhten Ziele reichten immer noch nicht aus, um eine Ökostromlücke zu verhindern.
Kemfert: "Selbst wenn man annimmt, dass Strom möglichst effizient und nicht verschwenderisch genutzt wird, wird der Strombedarf durch Elektromobilität und den Einsatz von Wärmepumpen im Gebäudesektor deutlich höher steigen, als die Bundesregierung annimmt."
Zudem habe die EU kürzlich die Klimaziele verschärft, so Kemfert, somit müssten die Emissionen in Deutschland noch schneller als bisher vereinbart sinken und die erneuerbaren Energien schneller ausgebaut werden.
"Wie wir in einer neuen Studie zeigen, müssen die Ausbauziele mindestens vervierfacht beziehungsweise versechsfacht werden – auf mindestens 20.000 Megawatt Solar- und knapp 10.000 Megawatt Windenergie pro Jahr, um eine Ökostromlücke zu vermeiden und die Energiewende- und Klimaziele zu erreichen."
Der von der Koalition gedeckelte Ausbau der Erneuerbaren reiche vorne und hinten nicht, um die aktuellen Klimaziele zu erreichen, sagte Kemfert. So sieht das auch die energiepolitische Sprecherin für Energiepolitik der Grünen im Bundestag, Julia Verlinden.
Die Unionsparteien verweigerten sich wirklichem Klimaschutz seit Jahren durch gezielte Blockaden im Bundestag, kritisierte Verlinden. Hinzu kämen nun "nebulöse Unverbindlichkeiten" ihres Kanzlerkandidaten, während Armin Laschet als Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen die Windenergie verhindere.
Redaktioneller Hinweis: Claudia Kemfert ist Mitglied im Herausgeberrat von Klimareporter°.